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„... von der Einheit losgerissen“ – Die Verlustgeschichte der Hungari.
Ein internationaler Workshop in Wien vom 30. September bis 3. Oktober 2021

Zwischen dem 30. September und dem 3. Oktober 2021 organisierten Katalin Blaskó (Universität Wien), Wynfrid Kriegleder (Universität Wien), Gertraud Marinelli-König (Österreichische Akademie der Wissenschaften), Orsolya Tamássy-Lénárt (Andrássy Universität Budapest) und Pál S. Varga (Universität Debrecen) einen internationalen Workshop für Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Österreich, Rumänien, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn. Die Konferenz, die im Collegium Hungaricum Wien veranstaltet wurde, ist als Auftaktsveranstaltung eines pluridisziplinären Forschungsprojekts gedacht, das der „Verlustgeschichte“ der Hungari nachgehen und ihre Tätigkeit wieder ins Gedächtnis rufen will. Die „Hungari“ gerieten nämlich im 19. Jahrhundert zunehmend unter den Druck eines Diskurses, der die nationale Identität als „magyarisch“ definierte und an der Verwendung der ungarischen Sprache festmachte. Bei der Tagung ging es sowohl um den Aktionsradius der Hungari innerhalb des habsburgischen Universums als auch um ihre allmähliche Verdrängung aus den an eine jeweilige „Nationalsprache“ gekoppelten „Nationalliteraturen“.

Ins Thema der Veranstaltung führte Moritz Csáky mit einem Keynote-Vortrag über Das Hungarus-Konzept ein, in dem er die Problematik der Zugehörigkeit der Hungari zum ungarischen Staat (aber nicht zur ungarischen Sprachgemeinschaft), die Spannung zwischen der Anerkennung von Mehrfachidentitäten und der Integration in eine Identität, sowie die verschiedenen Hungarus-Konzeptionen u.a. von Cornides, Csaplovics, Berzeviczy und Kazinczy besprach.

Um die Bedeutung und die besondere Rolle der Hungari besser herausarbeiten zu können, wurden auch Parallelerscheinungen aus dem habsburgischen Imperium herangezogen, etwa die verschiedenen Bohemismus-Konzepte in den Ländern der böhmischen Krone oder die Debatte um eine slowakische Literatur in Oberungarn. Steffen Höhne (Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar) setzte sich mit den unterschiedlichen Nationsauffassungen in Böhmen und in der Bukowina im 19.–20. Jahrhundert auseinander (landespatriotischer Nationsbegriff, Panslawismus, Hybrititätsmodell, Symbiosemodell usw.), während Václav Petrbok (Academy of Sciences of the Czech Republic) die Frage analysierte, inwieweit die interne sowie externe literarische Mehrsprachigkeit das literarische, kulturelle, soziale und politische Leben in den böhmischen Ländern des „langen“ 19. Jahrhunderts prägte.

An die “Blütezeit” des Hungarus-Patriotismus erinnerte István Fried (Universität Szeged) in seinem Vortrag über Ferenc Kazinczy, in dessen Leben Fried drei Wendepunkte aufzeigte: Das Jahr 1790, das auch als Schicksalsjahr im Königreich Ungarn aufgefasst werden kann, die Preisschrift zur Ausschreibung des Cotta-Verlags 1808 und die Entstehung der Siebenbürger Briefe 1816. In der ersten Sektion des nächsten Tages wurden weitere Zusammenhänge des Hungarus-Bewusstseins und der Nationalität sichtbar gemacht. Kálmán Kovács (Universität Debrecen) nahm die Position Johann Ladislaus Pyrkers, den er als einen Einzelgänger bezeichnete, zwischen dem Landespatriotismus und Sprachnationalismus aufgrund seines Epos Tunisias ins Visier. Pál S. Varga (Universität Debrecen) stellte die Geschichtsauffassung der Mitglieder des sog. ungarischen Kreises um Joseph Hormayr aufgrund ihrer historischen Abhandlungen vor, in denen sich die Widersprüche zwischen dem historischen Bewusstsein der Monarchie und deren Völkern offenbarten. Das Panel wurde durch den Vortrag von Iván Bertényi (Collegium Hungaricum Wien) mit einem Ausblick auf die Lage der Magyaren und der Nationalitäten sowie der (fehlenden) Hungari zu Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. 

Eine nächste Etappe der Geschichte der Hungari kristallisierte sich um 1830 heraus, als sie sich auf einem Scheideweg befanden. Orsolya Tamássy-Lénárt (Andrássy Universität Budapest) nahm den Lebensweg des Grafen Johann Mailáth näher ins Visier und versuchte seine mehrfache “Zwischenposition” sichtbar zu machen. Aufgrund des Oeuvres von Mailáth wurde die Frage erörtert, warum der Graf die ungarische Literatur verließ und sich der österreichischen Literaturszene zuwandte.  Ein späterer Grenzgänger und Fallbeispiel für eine doppelte literarisch-sprachliche Identität, Gyula Reviczky, stand im Mittelpunkt des Beitrags von Márton Szilágyi (Eötvös-Loránd-Universität Budapest), der sich mit der literarischen Laufbahn des Autors zwischen der deutschsprachigen und ungarischen Schriftstellerei befasste.

Dass die Hungari nicht ohne jeglichen Widerstand von der Palette der ungarischen Literatur verschwanden, besprachen die Vorträge der fünften Sektion. András F. Balogh (Eötvös-Loránd-Universität Budapest) verglich den literarisch-pädagogischen Werdegang von Johann Genersich und Stephan Ludwig Roth vor dem Hintergrund der Sprachkämpfe des 19. Jahrhunderts. János Szabolcs (Christliche Universität Partium) nahm die journalistische und politische Tätigkeit der Siebenbürgers Joseph Marlin ins Visier, der dem radikalen Roth gegenüber für eine liberale Modernisierung in Siebenbürgen auf der Grundlage der ungarischen Sprache plädierte. Neben den Verfechtern der Magyarisierung und den Befürwortern des Erwachens zur deutschen Nation existierte aber auch eine dritte Gruppe der Hungari, die ihr Hungarus-Bewusstsein und ihre Position als kulturelle Vermittler aufrechterhalten wollten. Einen bedeutenden Vertreter dieser Gruppe stellte Katalin Blaskó in ihrem Beitrag über Karl Maria Kertbeny vor, der mit seinem Jahrbuch des deutschen Elements in Ungarn als letzte Bastion des Hungarus-Bewusstseins betrachtet werden kann.

Die enge Vernetzung der Hungari mit Intellektuellen des deutschsprachigen Auslandes, insbesondere aber der Kaiserstadt wurde in den Mittelpunkt der letzten Einheit der Konferenz gestellt. Wynfrid Kriegleder (Universität Wien) hat den Bezug der Wiener Salondame Karoline Pichler zu Ungarn und zu den Hungari aufgrund ihrer nicht-fiktionalen Texte analysiert sowie ihr ungarisches Netzwerk (Besucher ihres Salons aus dem Königreich Ungarn) untersucht. Gertraud Marinelli-König (Österreichische Akademie der Wissenschaften), analysierte das Auftreten der Hungari bezogen auf Oberungarn (Slowakei) in Wiener Zeitschriften und legte Hinweise offen, die auf ihr Verschwinden hindeuteten.

Die Tagung wurde mit der Vorstellung der Bandes Moritz Benjowsky – ein mitteleuropäischer Held durch die Herausgeber*innen Katalin Blaskó und Alois Woldan und am nächsten Tag mit einer Exkursion zur Burg Trenčin abgerundet.

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