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Ungarn vor den Parlamentswahlen 2022: Überraschung ausgeschlossen?
Wenige Stunden vor der Öffnung der Wahllokale in Ungarn deutet alles auf einen erneuten Wahlsieg von Fidesz-KDNP hin. Um diese Ausgangslage besser einordnen zu können, lohnt sich ein differenzierter Blick auf die Entwicklungen im Vorfeld der Wahl.

Nach dem Wahlsieg von 2018 konsolidierte die Fidesz-KDNP-Regierung ihre Macht weiter. Insbesondere im kulturellen Bereich und in der Bildung setzte sie Maßnahmen durch, durch die der Einfluss der Regierungsparteien in diesen Sektoren gestärkt wurde. Nach der Vertreibung der CEU 2018/19 wurden zahlreiche staatliche Universitäten in Stiftungsuniversitäten umgewandelt. Die Universitäten wurden vom Staat mit einem Stiftungsvermögen ausgestattet und werden neu von einem Kuratorium geführt. Obschon die Trägerstiftungen vom Staat unabhängig sind, wurden ihre Kuratorien mit Gefolgsleuten der Regierung besetzt. Faktisch wurden damit die Universitäten dem staatlichen Einfluss entzogen und quasi privatisiert. Ein ähnliches Vorgehen ließ sich auch in anderen Bereichen beobachten, in denen staatliches Vermögen in regierungsnahe Stiftungen überführt wurde.

Den Regierungsparteien gelang es auch, die Europawahlen von 2019 klar zu gewinnen. Die geschwächte Opposition kam nach der erneuten Niederlage zur Erkenntnis, dass die einzelnen Parteien allein keine Chance auf einen Wahlsieg hätten, und sahen ein, dass ein Zusammenschluss notwendig wäre. Geleitet von dieser Erkenntnis kam es bei den Lokalwahlen zu ersten Experimenten mit oppositionellen Zusammenschlüssen, die zu einem Überraschungserfolg führten. In der Hauptstadt und in einigen größeren Provinzstädten konnte die Opposition die Macht übernehmen. Gestützt auf diese Erfahrung schlossen sich sechs Oppositionsparteien, welche das gesamte Spektrum von Links bis Rechts abdecken, zusammen und führten oppositionelle Vorwahlen durch, über die wir an dieser Stelle ausführlich berichtet haben (Blogbeitrag vom 18.03.2022).

Die COVID-19-Pandemie überschattete seit dem Frühjahr 2020 das gesamte gesellschaftliche Leben sowie Politik und Wirtschaft. Wie in anderen Ländern auch, suchte Ungarn nach der richtigen Antwort auf die Pandemie. Die Regierung fand ihren Ansatz für die Krisenbekämpfung erst, als es ihr gelungen war, die medizinische Herausforderung in politischen Begriffen als nationalen Abwehrkampf zu redefinieren. Dabei präsentierte sich die Regierung als gewiefte Krisenmanagerin, die einerseits alles tut, um die gesundheitliche Bedrohung zu bekämpfen, und andererseits dafür sorgt, dass die ungarische Wirtschaft nicht abstürzt und gestärkt aus der Krise hervorgehen kann. Tatsächlich konnte Ungarn früh mit der Impfung der Bevölkerung beginnen und auch die wirtschaftliche Leistung ist nicht allzu stark eingebrochen. Demgegenüber waren die Todeszahlen über die gesamte Pandemie betrachtet vergleichsweise hoch. Rankings, die die Leistungen von Regierungen während der Pandemie bewerten, sehen Ungarn eher im Mittelfeld. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Regierung die Bekämpfung der Pandemie politisch instrumentalisierte, und mit gezielten Massnahmen oppositionelle Gemeinden schwächte und regierungsnahe förderte.

Auf europäischer Ebene schien es zunächst, dass es Orbán gelingen würde,  seinen Einfluss innerhalb der EU zu stärken. Allerdings verstärkten sich die Konflikte zwischen Orbán und der EVP, was schließlich im Austritt von Fidesz aus der EVP-Fraktion gipfelte. Die erhoffte Bildung einer großen rechtskonservativen Fraktion konnte bis dato nicht realisiert werden, was eine Schwächung von Fidesz in der EU zur Folge hatte. Dies gilt umso mehr, als der von vielen erwartete Wahlerfolg anderer rechtspopulistischer Parteien ausblieb. Außerdem geriet die ungarische Regierung durch die gegen den Widerstand von Ungarn und Polen eingeführte neue Rechtsstaatskonditionalität und die Zurückhaltung von Geldern aus dem Wiederaufbau- und Resilienzfonds (RFF) unter Druck (Blogbeitrag vom 24.03.2022).

Die Parlamentswahlen 2022 finden in einer außergewöhnlichen Konstellation statt, befindet sich das Land doch aufgrund der COVID-19-Pandemie weiterhin im Ausnahmezustand und gleichzeitig gilt auch noch der 2015 eingeführte Migrationsnotstand. Mit dem russischen Angriff gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich auch das internationale Umfeld grundlegend verändert, was zu einer Aufwertung außen- und sicherheitspolitischer Fragestellungen im Wahlkampf geführt hat. Als enger Partner von Wladimir Putin innerhalb der EU steht Viktor Orbán nicht nur im westlichen Lager zunehmend isoliert da, sondern auch die Einheit der V4 scheint nachhaltig beschädigt worden zu sein.

Am 11. Januar 2022 hat Staatspräsident János Áder die Parlamentswahlen für den 3. April 2022 angesetzt. Aufgrund der Gesetzesrevision  vom November 2021 wurde auch möglich, das “Kinderschutz-Referendum” am gleichen Tag durchzuführen. Durch die Bekanntgabe des Wahltermins stand auch fest, dass die offizielle Wahlkampfperiode am 12. Februar beginnt. Die Kandidierenden in den Einerwahlkreisen mussten ihre Kandidaturen bis zum 25. Februar bei der Nationalen Wahlkommission einreichen. Die entsprechende Frist für die Parteilisten war der 26. Februar. Die Nationale Wahlkommission hat 664 Kandidierende in den 109 Einerwahlkreisen sowie sechs nationale Listen (mit 1’035 Kandidierenden) sowie 12 Minderheitenlisten zugelassen. Aufgrund interner Querelen ist es der Minderheit der Roma, der größten ungarischen Minderheit, nicht gelungen, eine eigene Liste aufzustellen. Trotz der Tatsache, dass sechs nationale Listen bei der Wahl antreten, steht von Anfang an fest, dass neben Fidesz-KDNP nur die geeinte Opposition (Gemeinsam für Ungarn - “Egységben Magyarországért”) Chancen auf einen Wahlsieg hat. Von den anderen Listen können höchstens “Unsere Heimat” (Mi Hazánk) und die Partei des Zweischwänzigen Hundes (Kétfarku Kutyapárt) auf den Einzug ins Parlament hoffen.

Mit der erstmaligen Durchführung der Vorwahlen im Herbst 2021 konnte die geeinte Opposition eine gewisse Aufbruchstimmung erzeugen, so dass sie auch in den Meinungsumfragen zulegen konnte. In einigen Meinungsumfragen lag sie sogar vor Fidesz-KDNP. Allerdings gelang es ihr nicht, diesen Vorsprung dauerhaft aufrechtzuerhalten, spätestens ab dem Dezember begann der Trend zu kippen. Inzwischen liegen die Regierungsparteien in allen Prognosen wieder klar vor der Opposition (vgl. Abb. am Ende des Beitrags). Allerdings wird der Wahlkampf überschattet durch den bereits erwähnten russischen Angriff auf die Ukraine. Die Auswirkungen dieses Ereignisses auf den Wahlausgang lassen sich noch nicht abschließend abschätzen.

Die OSZE hat sowohl die Wahlen von 2014 als auch 2018 als “frei, aber nicht fair” eingeschätzt. Begründet wurde dies 2018 konkret damit, dass “eine feindselige und einschüchternde Rhetorik [...] wenig Raum für eine substantielle Debatte [ließ], so dass die Wähler wenig Gelegenheit hatten, informiert eine Wahl zu treffen. Die allgegenwärtige Überschneidung von Regierungsinformationen und Wahlkampf der Regierungskoalition sowie andere Arten des Missbrauchs administrativer Ressourcen verwischten die Grenze zwischen Staat und Partei”.

Die von der OSZE beanstandeten ungleichen Rahmenbedingungen für die Wahlen haben sich nicht substantiell verändert, da die angemahnten Reformen ausgeblieben sind.

Die Wahlkampagne wird von der Regierungsseite dominiert, die über unverhältnismäßig mehr Ressourcen verfügt wie die Opposition. Ein gemeinsamer Bericht von K-Monitor, Political Capital und Transparancy International hat aufgezeigt, dass die Regierungsseite allein im März 2022 fast sechsmal mehr Ausgaben für politische Plakatwerbung getätigt hat, als die Vereinigte Opposition, Mi Hazánk und MKKP zusammen. Von den im  März 2022 insgesamt 14.343 sichtbaren öffentlichen Plakaten waren 12.171 Reklame für Fidesz, d.h. das Fidesz mit 84 % der Plakate insgesamt den Markt beherrscht. Auch bei dieser Wahl ist es besonders problematisch, dass es wiederum zu einer Vermischung von Regierungsinformation und Parteiwerbung kommt. Zusätzlich kann sich Fidesz-KDNP auch noch auf die durch öffentliche Gelder finanzierte Stiftung “Civil Összefogás Közhasznú Alapítvány” stützen, die ebenfalls zur aktuellen Wahlkampagne mit Plakaten beiträgt. Auch in den öffentlich-rechtlichen Medien und den regierungsnahen sonstigen Medien wird kaum objektiv über die Opposition und ihre Programmatik berichtet, wohingegen die Regierungsanliegen omnipräsent sind. Einzig in den Online-Nachrichtenportalen herrscht ein gewisses Gleichgewicht zwischen den beiden Seiten.

Wie in den vergangenen Wahlen haben Fidesz-KDNP auf die Ausarbeitung Wahlprogramms verzichtet. Die Kampagne ist ganz auf Viktor Orbán zugeschnitten. Er wird als lichte Führungsgestalt stilisiert, die Ungarn den Weg in eine erfolgreiche Zukunft weist. In scharfem Gegensatz dazu wird der gemeinsame Ministerpräsidentenkandidat der vereinigten Opposition, Péter Márky-Zay, als Marionette von Ferenc Gyurcsány gezeichnet. Letzterer steht für eine Rückkehr in eine finstere und erfolglose Vergangenheit. Außerdem ist es Orbán gelungen, das Thema des Ukrainekrieges für sich zu instrumentalisieren, indem er sich als Garant für Frieden und Sicherheit und somit auch als Bewahrer des Wohlstands Ungarns präsentiert.

Die vereinigte Opposition hatte unter der Leitung von Márky-Zay ein gemeinsames Regierungsprogramm erarbeitet. Dieses stützt sich auf das Ergebnis eines öffentlichen Konsultationsprozesses, in welchem die Parteien zunächst Thesen zu zentralen Politikbereichen formuliert und zur Diskussion gestellt haben. Allerdings konnte die vereinigte Opposition das so erarbeitete gemeinsame Programm “Nur nach oben! - Das Programm des aufstrebenden Ungarns” (Csak felfelé! - Az emelkedő Magyarország programja) erst am 10. März 2022, drei Wochen vor dem Wahltermin, vorstellen. Die Kernbotschaft des Programms lautet, dass es bei der Wahl um die Grundsatzentscheidung “Orbán oder Europa?” geht. Zentrales Ziel ist die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Damit soll ein “europäisches Ungarn” verwirklicht werden, das von allen als gemeinsame Heimat empfunden werden kann.

Abschließend lässt sich festhalten, dass es der geeinten Opposition nicht gelungen ist, im Wahlkampf ihre Themen zu setzen. Weder die grassierende Korruption noch die hohe Zahl der COVID-Toten spielen im öffentlichen Diskurs eine Rolle. Auch vor dem Hintergrund der russischen Aggression gegen die Ukraine war die geeinte Opposition nicht in der Lage sich als europäische Alternative gegenüber Orbáns Narrativ zu positionieren. Obwohl alle Meinungsumfragen auf einen erneuten Sieg von Fidesz-KDNP hindeuten, lässt sich abschließend trotzdem festhalten, dass die Opposition in den letzten zwölf Jahren nie eine bessere Ausgangslage gehabt hat.

Abbildung: Meinungsumfragen zu den Parteistärken

(Mittelwert der Prognosen unterschiedlicher Meinungsforschungsinstitute)

Quelle (eigene Darstellung)

Ellen BOS und Zoltán Tibor PÁLLINGER

2024-2 März 2024 2024-4
 
 
 
 
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