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Sarajevo – multireligiöser Mikrokosmos Europas
Einen virtuellen Rundgang durch die Geschichte des interreligiösen Mikrokosmos Sarajevo bot die Leiterin des Büros für Internationale Beziehungen bei der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, Dr. Dževada Šuško, den Gästen der AUB

In seiner Begrüßungsrede ging Gergely Prőhle, Vorsitzender der Otto-von-Habsburg-Stiftung und ehemaliger ungarischer Botschafter in Deutschland und der Schweiz, auf das österreichisch-ungarische Islamgesetz von 1912 ein, das den Status der muslimischen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina und in der Habsburgermonarchie regelte. Der Islam wurde hier als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft anerkannt, womit die Habsburgermonarchie eine gesamteuropäische Vorreiterrolle in Sachen religiöser Toleranz einnahm. Die Hauptmerkmale dieser Gesetze seien auch heute noch relevant und hätten sich entsprechend den modernen Anforderungen weiterentwickelt, so Prőhle.

Dr. Heinrich Kreft merkte an, dass dieses Gesetz auch in Deutschland herangezogen worden sei, um zu verstehen, wie man das friedliche Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Religionen gestalten könne. Neben der Untersuchung der Koexistenz verschiedener Konfessionen sei es jedoch auch wichtig, die Rolle der Religion in den internationalen Beziehungen in Erinnerung zu rufen, die laut Kreft bisher nicht ausreichend beachtet wurde. 

Nach den einführenden Worten nahm die Referentin Dr. Dževada Šuško das Publikum mit auf eine "Reise" durch Sarajevo. Die Reise begann mit einem geschichtlichen Überblick über die Stadt, wobei sie Bilder von den religiösen und kulturellen Stätten des Landes und seiner Hauptstadt zeigte. Es sei historisch erwiesen, dass Bosnien und Herzegowina schon immer ein multireligiöses Land gewesen sei. Orthodoxe, Katholiken (Franziskaner) und AnhängerInnen der häretischen Sekte der bosnischen Kirche (Bohumils, Katharer, Albigenser) lebten vom 10. bis zum 15. Jahrhundert im bosnischen Königreich. Šuško betonte hier, dass es nicht bloße Toleranz sei, die dort seit Jahrhunderten bestünde, sondern ein echtes, gelebtes Miteinander.

Sie selbst habe es sehr faszinierend gefunden, bei einem Aufenthalt in Polen einen bekannten Namen zu lesen. Elisabeth von Bosnien, die den ungarischen König Ludwig I. geheiratet hatte, bekam mit ihm die Tochter Hedwig, die schließlich zur ersten Königin Polens wurde. Dies zeige deutlich, wie vernetzt Europa schon damals gewesen sei. 

Der Islam habe sich auf dem Balkan verbreitet, nachdem das Osmanische Reich den größten Teil der Halbinsel erobert hatte, erklärte Šuško. Die Osmanen eroberten Bosnien im Jahr 1463 und ihre Herrschaft dauerte ca. 450 Jahre an. Im Laufe der Jahrhunderte des Osmanischen Reichs konvertierten einige der Südslawen zum Islam. Trotzdem sei die pluralistische Gesellschaft dank eines Dekrets des Sultans aus dem Jahr 1463 erhalten geblieben, das als Garant der Religionsfreiheit diente. Das Dekret gestand den Katholiken in Bosnien und Herzegowina religiöse Rechte und Freiheiten zu und erlaubte dem Franziskanerorden, in diesem Gebiet tätig zu sein. In dieser Zeit entstanden in Sarajevo im Jahr 1566 eine sephardische Synagoge, 1539 orthodoxe Kirchen und 1531 die Gazi Husrev-beg-Moschee. Christliche, muslimische und jüdische Gotteshäuser wurden in unmittelbarer Nähe zueinander gebaut, daher könne man vom Jerusalem Europas sprechen, schlussfolgerte die Referentin.

Šuško sprach weiter über die Zeit von 1878 bis 1914 ein, zu der Bosnien Teil Österreich-Ungarns war, was für das Land und seine Bevölkerung sehr prägend gewesen sei. Diese Zeit habe radikale Veränderungen, Modernisierung, eine Ausrichtung auf Europa und die Integration in den mitteleuropäischen Kontext bedeutet. Die Doppelmonarchie habe vorgehabt, ihre Kultur nach Bosnien zu „verpflanzen“. Dabei sei zu bedenken, dass man Bosnien auf dem Berliner Kongress im Jahr 1878 noch als Land des Nahen Ostens bezeichnet habe, merkte die Referentin an. 

Schließlich ging Šuško noch näher auf die einzelnen Religionsgemeinschaften in Bosnien ein. Da sei zum Beispiel die ukrainische griechisch-katholische Christkönigskirche in Banja Luka, die 1917 erbaut worden war. Die ersten UkrainerInnen seien nach dem Berliner Kongress 1878 in Bosnien und Herzegowina aufgetaucht. Bis dahin sei das Gebiet mit seinen unfruchtbaren Böden nur dünn besiedelt gewesen. Die österreichische Regierung habe dann mit umfangreichen Maßnahmen begonnen, um die unfruchtbaren Gebiete so schnell wie möglich zu besiedeln. 

Ein Zeichen interreligiöser Verbundenheit sei in der Kleidung zu finden gewesen - muslimische, christliche und jüdische Frauen trugen oft ähnliche Kleidung (zum Vergleich wurden drei Fotos aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gezeigt, bei denen auf den ersten Blick nicht klar war, welche Frau nun welcher Religionsgemeinschaft angehöre). Šuško betonte an dieser Stelle erneut, dass es sich nicht nur um ein interreligiöses Nebeneinander, sondern um ein enges Zusammenleben von Menschen verschiedener Glaubensrichtungen gehandelt habe. So hätten die Menschen keineswegs in getrennten, sondern in gemischten Wohnvierteln gelebt und seien sich selbst in schwierigen Zeiten mit gegenseitigem Respekt begegnet. Allerdings habe es in der Geschichte auch mehrere Versuche gegeben, diese friedliche Koexistenz zu zerstören. Ein Beispiel dafür sei Jugoslawien gewesen (1918 bis 1992). Während des Krieges sei Religion für radikale Ideologien und Völkermord missbraucht worden. Doch trotz der Konzentrationslager und Kriegsverbrechen, die es gegeben habe, habe es auch immer wieder Beispiele für Nächstenliebe über Religionen hinweg gegeben.

Für den interreligiösen Dialog wurde im Jahr 1997 von vier traditionellen Religionsgemeinschaften in Bosnien und Herzegowina, nämlich der islamischen Gemeinschaft, der orthodoxen Kirche, der katholischen Kirche und der jüdischen Gemeinschaft, ein interreligiöser Rat gegründet, in dem Šuško selbst aktiv beteiligt ist.

Auch das heutige Islamverständnis im Land sprach Šuško an. Dieses sei geprägt von den vielen Neuinterpretationen und Reformen, welche die verschiedenen historischen Abschnitte und Umbrüche in der Geschichte des Landes mit sich gebracht haben. Der Islam in Bosnien und Herzegowina sei letztlich ein "Islam mit europäischem Charakter".

Am Ende ihres Vortrags sprach Šuško über die heutigen Herausforderungen, die Frieden und Dialog gefährden, sowie über die Möglichkeiten für die Fortsetzung des interreligiösen Dialogs und die Beibehaltung eines Jerusalem in Europa. Ihren Vortrag schloss sie mit den Worten, der Dialog habe keine Alternative.

Während der anschließenden Podiumsdiskussion stellten die Teilnehmenden Fragen über die Rolle und die Lage des Islams in Europa, die bevorstehenden Wahlen in Bosnien und Herzegowina im Oktober und weitere Themen. Im Anschluss bot die Otto-von-Habsburg-Stiftung die Möglichkeit, sich bei einem Empfang weiter auszutauschen.

Eldaniz GUSSEINOV, Schilan STACH

Eine Aufzeichnung der Veranstaltung finden Sie hier.

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