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Raum erfahren – Raum erfassen
Doktorschule, Andrássy Universität Budapest
Raum erfahren – Raum erfassen: Dissertationsprojekt zur Eisenbahnkartographie in der Habsburgermonarchie

Auch wenn uns heute ein großes Spektrum an Reise-, Transport- und Kommunikationsmitteln vom Flugzeug bis zum Glasfaserkabel zur Verfügung steht, so ist die Eisenbahn – fast zweihundert Jahre nach der ersten dampfbetriebenen Fahrt von Stockton nach Darlington 1825 – jenes Verkehrs- und Kommunikationsmittel, welches nach wie vor mit Geschwindigkeit und technischem Fortschritt assoziiert wird. Das wachsende Schienennetz der Eisenbahn war Wegbereiter der Moderne, ebenso wie die Datenströme des Internets Schrittmacher des digitalen Zeitalters sind.

Die Triebkraft der Eisenbahn, sowohl mechanisch als auch gesellschaftlich, wirtschaftlich und geopolitisch war vom Beginn des Eisenbahnzeitalters an Thema in Tagesgesprächen, Diplomatie, Kunst, Literatur und wissenschaftlichem Diskurs. Dabei kristallisierte sich rasch das Bild von der den Raum und die Zeit vernichtenden Eisenbahn heraus. Start- und Zielort der Reise rückten näher zusammen, die zurückzulegende Wegstrecke zwischen diesen Punkten hingegen verlor an zeitlicher Länge und Beschwerlichkeit. Wurde die Natur und das Wetter in vorhergehenden Jahrhunderten als bedrohlich und unberechenbar wahrgenommen, so änderte sich dies durch das Fenster des Zugabteils schlagartig. Durch die Technik wurde die Natur zähmbar und Reisen damit auf die Minute genau vorhersagbar, wovon auch die Eisenbahnzeit und eng getaktete Fahrpläne Zeugnis ablegen. Doch Entfernungen schrumpften nicht nur zusammen, mit der Zerstörung von Zwischenräumen in der Wahrnehmung der Reisenden kam es gleichsam zu einer Erweiterung des Raumes. 1843, zur Eröffnung der Bahnstrecke Paris – Orleans schrieb Heinrich Heine begeistert, dass er die Brandung der Nordsee bald vor seiner Haustür in Paris würde rauschen hören können. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte durchdrang, formte und besetzte die Eisenbahn den Lebensraum der Menschen neu.

Die Auswirkungen der Eisenbahn auf den Raum nachzuvollziehen ist Aufgabe in dem hier vorgestellten Dissertationsprojekt im Fach Mitteleuropäische Geschichte an der Andrássy Universität Budapest. Eine für dieses Vorhaben probate, aber bisher übersehene Quelle aus dem reichen Fundus der materiellen Kultur, die aus dem Eisenbahnzeitalter auf uns gekommen ist, stellen Eisenbahnkarten dar. In Eisenbahnkarten eingeschrieben finden sich nicht nur topographische, politische und ökonomische Informationen über einen geographischen Raum, Karten können ebenso Aufschluss geben über die historische Wahrnehmung von gelebten und gedachten Räumen. Hierbei soll in erster Linie nicht die Frage relevant sein, wie dieser oder jener geographische Raum beschaffen ist, sondern wie Räume als symbolische Verräumlichung sprachlich, kommunikativ, bildlich in der Kartographie hergestellt werden.

Mitnichten sind Karten dabei als objektive, auf Fakten basierende Wissensspeicher anzusehen. Unterschiedliche Faktoren, wie das Interesse des Auftraggebers, Einsatzgebiet und Zielgruppe beeinflussen das Erscheinungsbild der Karten. Karten für Ingenieure einer Bahnstrecke unterscheiden sich in ihren formalen Aspekten von Karten in Reiseführern, die sich speziell an Touristen wenden usw. Mit den richtigen methodischen Werkzeugen können Kommunikationsmechanismen und Narrationen über Raum, Räume und Gesellschaft in Karten aufgedeckt werden.
Eisenbahnkarten österreichischer Provenienz sind dahingehend für die Geschichtsforschung interessant, weil sie nicht nur Auskunft geben über die Mobilisierung, Industrialisierung und den sich wandelnden Blick auf Natur in der Monarchie, sondern auch zeigen, wie die Eisenbahn den Vielvölkerstaat an der Donau erschloss, zusammenband, und hierarchisierte.

Das vorgestellte Forschungsprojekt leistet Grundlagenarbeit, indem es Eisenbahnkarten aus der Habsburgermonarchie zusammenträgt und für die geisteswissenschaftliche Arbeit formal erschließt. Bisher fehlt nicht nur eine allgemeingültige Definition, auch wurde nur dreimal der Versuch unternommen, eine Systematik zur Kategorisierung für diese sehr heterogene Quellengattung zu entwickeln. Für die Forschung zur Geschichte der Eisenbahnkartographie in der Habsburgermonarchie soll diese Lücke geschlossen werden.

Zum anderen wird eine inhaltliche Erschließung von Eisenbahnkarten österreichischer Provenienz unter dem Aspekt der sich wandelnden Raumwahrnehmung und Verräumlichung in der Kartographie angestrebt. Zu diesem Zweck wird die semiotische, bildliche und schriftliche Sprache von Karten sowie deren Entwicklung vom Beginn des Eisenbahnzeitalters in den 1830er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs analysiert. Wie ändert sich der Blick auf geographische, politische, wirtschaftliche, soziale und kultürliche Räume? Wie wird Raum und eine zunehmend technisierte, sich im Wandel befindende Umwelt in die Symbolik, Bildsprache und Sprache der Kartographie übersetzt? Welche gelebten, wahrgenommenen und gedachten räumlichen Aspekte standen im Fokus und welche rückten im Laufe der Zeit aus dem Fokus heraus? All dies sind erkenntnisleitende Fragen, denen sich im Rahmen des Dissertationsprojektes genähert wird, um am Ende konkretere Aussagen über die Raumwirksamkeit der Eisenbahn in der Habsburgermonarchie im 19. und frühen 20. Jahrhundert treffen zu können.

Arlene Peukert

Doktorandin

Ort - Andrássy Universität Budapest
2024-3 April 2024 2024-5
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