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Mitteleuropa – wohin mit dir? Über ein Dissertationsprojekt zu Staatsideen aus Ungarn
Doktorschule, Andrássy Universität Budapest
Mitteleuropa – wohin mit dir? Dissertationsprojekt „Mitteleuropakonzeptionen in Ungarn von 1848 bis zum Ende der Monarchie”

Wo Licht ist, dort ist auch Schatten, schrieb einst Johann Wolfang von Goethe, denn Gegensätze bedingen einander – womit auch die größte Finsternis doch noch stets Anlass dazu gibt, auf das Kommende zu hoffen. Ein Umstand, der gerade in der Gegenwart eines von Krisen zerrüttetem Europa, wirtschaftlich desolat und von Populismus erfüllt, Mut zu machen in der Lage ist. So lesen sich im Vorwort der Veröffentlichung eines ungarischen Ministers auch folgende Zeilen: „Soll die Zukunft nur ruhig sehen, dass es in Ungarn auch während des nationalen Rausches eine öffentliche Meinung gab, die mit den realen Gegebenheiten rechnen konnte und den vermeidlichen Gegnern nicht mit Hass, sondern mit Respekt, ja sogar Liebe begegnete.“ Der Ort: Mitteleuropa. Die Zeit: das Jahr 1918.

Jeder Leser kann sich an dieser Stelle womöglich selbst diverse Szenarien ersinnen, in deren Kontext das Zitat in einer historischen Periode gefallen sein könnte, welche voll der Zäsuren für den Kontinent und die gesamte Welt war. Der betreffende Staatsmann – sein Name war Oszkár Jászi – sprach seine Worte dabei jedoch nicht nur mit Blick auf den sich in den letzten Zügen befindlichen ersten Weltkrieg, sondern in einem viel weiterreichenden Zusammenhang. Die Botschaft: Es gibt und gab auch früher schon andere politische und ideologische Vorstellungen für Mitteleuropa als jene, die im Allgemeinen bekannt sind. Jászis Worte zu den Alternativen zum Nationalismus und Hungarozentrismus blieben dabei weitgehend ungehört und auch im heutigen Duktus der deutsch-, aber auch ungarischsprachigen wissenschaftlichen Literatur wird dem dualistischen System der Habsburgermonarchie mit dem dort allgegenwärtigen Nationalitätenproblem im Allgemeinen ein völliges Desinteresse attestiert, wenn es um die Bereitschaft zu grundlegenden politischen Veränderungen geht. Vielmehr noch: Die Überhöhung der eigenen Interessen, Nationalismus und die soziale Rückständigkeit der Gesellschaft sowie eine intolerante Minderheitenpolitik seien dabei historisch sogar stark im mitteleuropäischen Raum verankert, dass deren Wirkung auch gegenwärtig noch zu spüren sei. So verwundert es auch nicht, dass der Zusammenbruch der k.u.k Monarchie auch heute noch aus der eigenen Zeit heraus als völlig alternativlos und als zwingend notwendig skizziert wird.

Dabei mangelt es zumindest für den magyarischen Teil der Monarchie nicht an zeitgenössischen  Quellen,  um  die Wirkung  jener  Ideen zur kulturellen,  wirtschaftlichen  und politischen Neugestaltung der Region in ihrer Wirkung und Rezeption in der Gesellschaft und der  Politik zu  untersuchen, welche Jászi bereits 1918 andeutete. Zahlreiche ungarische Politiker, Intellektuelle und Dichter, wie  Teleki, Elemér, Kossuth  und  Ady – um nur ein paar zu nennen – formulierten eigene Vorstellungen, positionierten sich durch ihr Wirken im Diskurs und zeigten Perspektiven auf, welche, wenn überhaupt, zumeist  nur für sich alleinstehend aufbereitet und wissenschaftlich untersucht wurden, nicht aber in ihrem breiten Zusammenhang untereinander. Ihre Wirkung auf Kultur, Gesellschaft und Politik als Ganzes liegt bis heute im Verborgenen. Zumindest noch.

Denn der Hauptgegenstand der sich noch in der Entwicklung befindlichen Dissertation „Mitteleuropakonzeptionen in Ungarn von 1848 bis zum Ende der Monarchie”, setzt sich dabei genau dieses Ziel der Herstellung und der Kontextualisierung jener Verbindungen untereinander sowie zur Politik und zur Gesellschaft selbst. In ihrem Zentrum steht dabei die Frage, welche Reformansätze es in Theorie und Praxis zur Modernisierung der Monarchie gab und wie sich diese entwickelten. Es mag dabei wohl wenig überraschend sein, dass sich diese ideologischen Debatten an den großen Zäsuren des Pannonischen Beckens orientierten, wie dem Freiheitskampf von 1848/49, dem Ausgleich mit Österreich 1867 und den Kriegsereignissen ab 1914, da eben jene realpolitischen Transformationsprozesse – gleich, ob konkret gewollt oder oktroyiert – im Vorfeld und Nachgang das allgemeine Denken nachhaltig beeinflusst haben müssen. Mit dem Kulminieren aller dieser Stränge in den Entwicklungen des Ersten Weltkriegs markiert dieser schlussendlich nicht nur das Ende des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn, sondern auch den eines siebzigjährigen Prozesses, den die Dissertation nach den genannten Charakteristika aufzuschlüsseln gedenkt und auch als Untersuchungszeitraum benennen kann.

Der Einfluss der einzelnen sich daraus ergebenden Modernisierungsansätze soll dabei insbesondere durch Untersuchungen der politischen Debatten in Ungarn anhand von parlamentarischen Sitzungsprotokollen sowie den Beziehungen der wichtigsten Akteure untereinander gesichert und ausgewertet werden. Dabei ist es dank der heutigen Computertechnik auch möglich, mittels entsprechender Verschlagwortung, Vernetzung und digitaler Clusterung, die Suche auf ein wesentlich weiteres Quellenfeld auszudehnen als dies früher möglich gewesen wäre und auch Briefe, Tagebücher oder Artikel in Zeitungen und akademischen Zeitschriften punktuell gewinnbringend einzubeziehen. Die Erweiterung der Forschung um dieses digitale Werkzeug bietet dabei ein Erkenntnispotenzial, welches so in der Vergangenheit aufgrund der Größe oder der Zerstreutheit des Quellenkorpus nicht, oder nur schwerlich umsetzbar war.

Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie wenn man erkennt, dass diesem Unterfangen nach der Erforschung der konzeptuellen Vielfalt von Unions-, Föderations- und Staatsgedanken, welche durchaus den Esprit der modernen Auffassung eines Europa in sich trugen, eben jener Umstand zugutekommt, welcher einst mitunter zum Auseinanderbrechen eben jenes Vielvölkerstaates beitrug: Die übermäßige Konzentrierung von Elite, Macht, Intelligenzia und Kultur in einer Hauptstadt, welche viele Akteure in einem relativ engem Kreis miteinander vereinte. Diese räumliche, als auch zeitliche Nähe stellte dabei den Nährboden des Austausches. Am Ende vermag es auf diese Art und Weise möglich zu sein, Teile des Europas von heute im Gestern neu zu entdecken – oder die Gegenwart um eine neue Geschichte zu bereichern.

András Wekler

Doktorand

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