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Konflikte um die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn
Die vereinigte Opposition hat in ihrem Programm “Nur nach oben! - Das Programm des aufstrebenden Ungarns” die Wiederherstellung der Rechtstaatlichkeit in Ungarn an die erste Stelle gesetzt.

Die vereinigte Opposition („Egységben Magyarországért“, Vereint für Ungarn) hat in ihrem Programm “Nur nach oben! - Das Programm des aufstrebenden Ungarns” (Csak felfelé! - Az emelkedő Magyarország programja) die Wiederherstellung der Rechtstaatlichkeit in Ungarn an die erste Stelle gesetzt. Grundlage dafür soll eine neue Verfassung sein, welche die grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten sowie die Gewaltenteilung neu verankert. Damit sollen die verfassungsmäßige Ausübung der staatlichen Gewalt abgesichert und alle auf den ausschließlichen Besitz von Macht gerichteten Bestrebungen in Zukunft verhindert werden. Im Einzelnen sollen eine im Einklang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen stehende Arbeitsweise des Parlaments, eine erhebliche Verringerung der Zweidrittelgesetze, die Unabhängigkeit der Justiz, die Stärkung des Verfassungsgerichts als wichtigstem Gegengewicht zur Exekutive, die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft und die Einführung einer auf die Bekämpfung von Korruption spezialisierten Staatsanwaltschaft sowie der Beitritt Ungarns zur Europäischen Staatsanwaltschaft erreicht werden. Außerdem sollen die Pressefreiheit und faire Wettbewerbsbedingungen auf dem Medienmarkt wiederhergestellt sowie die Zivilgesellschaft und die Partizipation der BürgerInnen gestärkt werden. Das neue Verfassungssystem soll so die sich aus Ungarns Mitgliedschaft in der EU und der NATO ergebenden Verpflichtungen absichern und Ungarn in die Gemeinschaft der auf demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen stehenden europäischen Länder zurückführen.

Auf der anderen Seite steht die Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán seit ihrem Wahlsieg im Jahr 2010 wegen der von ihr durchgesetzten Reformen des politischen Systems in der Kritik. Ihr wird nicht nur von der ungarischen Opposition, sondern auch von der internationalen Presse und von verschiedenen Institutionen und Akteuren der EU vorgeworfen, dass sie demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze verletze. Hintergrund der Kritik ist der tiefgreifende Umbau des politischen Systems, den die Regierung seit 2010 vorangetrieben und in einer neuen Verfassung, einem neuen Wahlgesetz und zahlreichen weiteren Zweidrittelgesetzen verankert hat. Der Umbau umfasst zum einen eine Reform des politischen Institutionengefüges und der Verfahren des politischen Prozesses sowie einen umfassenden Elitenaustausch auf allen wichtigen staatlichen und gesellschaftlichen Positionen sowie die Neustrukturierung des Mediensystems. Außerdem hat die politische Elite ein Netzwerk von sie unterstützenden Unternehmern aufgebaut, welche ihrerseits ihre Prosperität der Förderung durch die Regierung verdanken. Zum anderen wurde eine neue christlich-konservative Wertegrundlage geschaffen und durch die kontinuierliche Beschwörung einer existenziellen Bedrohung Ungarns durch äußere und innere Feinde ein permanenter Ausnahmezustand generiert. Außerdem wurde der Handlungsspielraum für regierungskritische NGOs und kritische Medien begrenzt. Insgesamt führten die Reformen durch die zunehmende Zentralisierung von Macht bei der Exekutive bei gleichzeitiger Schwächung der institutionellen Gegengewichte wie insbesondere des Verfassungsgerichts zu einer Schwächung der Gewaltenteilung und einer Akzentuierung des majoritären Elements im Gefüge des politischen Systems. Das System wird außerdem durch die enge Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Macht geprägt.

Die einschlägigen Demokratieindizes kommen einhellig zu der Einschätzung, dass die verschiedenen Reformelemente und ihr systemisches Zusammenwirken zu einer Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geführt haben. Entsprechend wird Ungarn bereits seit einigen Jahren nicht mehr als konsolidierte Demokratie, sondern als „defekte Demokratie“ oder „hybrides“ bzw. „sich im Übergang befindendes“ Regime in der Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie eingestuft. Ungarn ist der erste Mitgliedstaat der EU, dem ein solcher Rückgang der demokratischen Qualität attestiert wird.

Aufgrund der Sorge um den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn kam es nach 2010 regelmäßig zu Konflikten zwischen den EU-Institutionen und Ungarn. Hierbei kam die gesamte Palette der EU bei Verletzungen ihrer Werte und bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien durch einen Mitgliedstaat zur Verfügung stehenden Instrumente zum Einsatz. Diese umfassen sowohl politische als auch rechtliche Verfahren. Sie reichen von dialogischen Mechanismen über Vertragsverletzungsverfahren bis hin zum Artikel-7-Verfahren, das Verstöße in letzter Konsequenz mit dem Entzug des Stimmrechts im Rat der EU sanktionieren kann. Zum einen hat sich das Europäische Parlament regelmäßig mit der Lage der Demokratie in Ungarn befasst und dazu mehrere kritische Berichte verabschiedet. Zum anderen hat die Europäische Kommission bisher acht rechtsstaatsbezogene Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Schließlich wurde im September 2018 auf Initiative des Parlaments ein Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn ausgelöst.

Allerdings hat sich keiner der Mechanismen als wirksames Instrument erwiesen. Im Zuge der Vertragsverletzungsverfahren hat die ungarische Regierung zwar Modifizierungen von beanstandeten gesetzlichen Regelungen oder Verfassungsänderungen vorgenommen, aber diese Änderungen waren häufig nur oberflächlich und haben die substanzielle Einhaltung der in Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union verankerten Werte nicht erreichen können. Seit 2017 haben sich die Konflikte um die Rechtsstaatlichkeit zwischen der EU und der ungarischen Regierung verschärft. Denn diese bestreitet seitdem die Legitimität von Maßnahmen der EU und weist die Kritik des Europäischen Parlaments und der Kommission als vertraglich nicht gedeckte Einmischung in die nationale Souveränität Ungarns und als Beleidigung des ungarischen Volkes zurück. Aus Sicht der ungarischen Regierung geht es bei der Kritik außerdem gar nicht um die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit, sondern in erster Linie um eine politische Bestrafung der ungarischen Regierung für ihre restriktive Haltung in der Migrations- und Asylpolitik. Orbán verweist in diesem Zusammenhang regelmäßig darauf, dass die EU mit ihrem Vorgehen gegen Ungarn zu einer „neuen Sowjetunion“ werde.

Vor dem Hintergrund, dass die EU zwar über eine Reihe von Instrumenten und Verfahren zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit verfügt, aber diese offensichtlich nicht ausreichen, um die Werte und Normen der EU in einem Mitgliedstaat durchzusetzen, wurden verschiedene Initiativen zur Überwindung des Compliance-Problems gestartet. In der 2017 einsetzenden Debatte über den EU-Haushalt 2021-2027 wurden von verschiedenen Seiten erstmals Vorschläge für einen neuen Konditionalitätsmechanismus eingebracht, mit dem die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien gebunden werden sollte. Aus diesen Vorschlägen ging schließlich die Verordnung „über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union“ hervor, in der ein neuer Rechtsstaatskonditionalitätsmechanismus verankert wurde. Die Verordnung wurde gegen den Widerstand von Ungarn und Polen im Dezember 2020 verabschiedet und trat zum 1. Januar 2021 in Kraft trat. Allerdings war Ungarn und Polen zugesichert worden, dass für den Fall von Nichtigkeitsklagen gegen die Verordnung der Mechanismus erst dann zur Anwendung kommen würde, wenn das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vorliegt. Es war wenig überraschend, dass die ungarische ebenso wie die polnische Regierung beim EuGH Nichtigkeitsklagen gegen die Verordnung einreichten. Die ungarische Regierung argumentierte, dass der Verordnung eine angemessene Rechtsgrundlage in den Verträgen fehle und sie außerdem eine Verletzung und Umgehung von Art. 7 EUV darstelle. Außerdem verstoße sie gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und Normenklarheit, da die darin verwendeten Grundbegriffe wie Rechtsstaatlichkeit zum Teil nicht definiert seien und auch gar nicht einheitlich definiert werden könnten. Deshalb könnten die Mitgliedstaaten nicht mit der notwendigen Sicherheit erkennen, was von ihnen gemäß der Verordnung erwartet werde.

Auf Antrag des Europäischen Parlaments ließ der Präsident des EuGH in diesem Fall ein beschleunigtes Verfahren zu, so dass die Hearings bereits am 11. und 12. Oktober 2021 stattfinden konnten. Beobachter der Anhörung berichteten, dass die ungarische und die polnische Regierung mit ihren Argumenten isoliert blieben und die 27 Richter die Behauptung einstimmig zurückwiesen, dass die Rechtsstaatlichkeit ein nicht definierbarer Begriff sei und auch nicht klar genug als unionsrechtlicher Begriff definiert sei. Am 2. Dezember 2021 empfahl Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona dem Gerichtshof, die Nichtigkeitsklagen abzuweisen. Der EuGH entschied in seinem Urteil vom 16. Februar 2022 entsprechend und wies alle von Ungarn vorgebrachten Argumente gegen die Verordnung zurück.

Obwohl der neue Konditionalitätsmechanismus zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit auch nach dem Urteil des EuGH noch nicht zur Anwendung gekommen ist, prüft die Europäische Kommission bei der Bewertung der von den Mitgliedstaaten eingereichten Resilienz- und Wiederaufbauplänen bereits Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit. Auch ohne Bezug auf den neuen Konditionalitätsmechanismus hat die Kommission den Resilienz- und Wiederaufbauplan Ungarns bisher nicht genehmigt, so dass noch keine Gelder ausgezahlt wurden. Die Kommission begründet dies mit fehlendem Wettbewerb in öffentlichen Vergabeverfahren, der fehlenden Entschlossenheit bei der Verfolgung von Korruption auf hoher Ebene und den Einschränkungen beim Zugang zu öffentlichen Informationen und der Medienfreiheit. Die ungarische Regierung wirft der Kommission deshalb eine „ideologische Hexenjagd“ vor. Laut Justizministerin Judit Varga verwechselt die Kommission ideologische Positionen mit professionellen Finanzfragen. Sie habe das Rechtsstaatsprinzip in ein politisches Erpressungsinstrument verwandelt.

Während die Regierung Orbán die Kritik der EU an der Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie scharf zurückweist und die eingeleiteten Maßnahmen gegen Ungarn als nicht legitimierte Eingriffe in die ungarische Souveränität, politische Bestrafung bzw. politische Erpressung Ungarns qualifiziert, teilt die vereinigte Opposition die Kritik der EU. Die in ihrem Programm vorgesehen Schritte zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn zielen genau auf die von der EU kritisierten Mängel. Diese Polarisierung spiegelt sich auch in der von der Opposition als wichtigste Frage der Parlamentswahlen herausgestellten Alternative „Orbán oder Europa?“.

Die weitere Entwicklung im Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn wird aber nicht nur vom Ergebnis der Parlamentswahlen am 3. April 2022 abhängen. Denn ab wann und in welcher Weise die neue Rechtsstaatskonditionalität der EU zur Anwendung kommt, ist noch unklar. Dies gilt umso mehr, als sich die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf die Prioritätensetzung und die Entscheidungsfindung der EU noch nicht abschätzen lassen.

Ellen BOS

2024-2 März 2024 2024-4
 
 
 
 
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