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"Hingerichtet und wir leben dennoch"
Das literarische Frühwerk György Sebestyéns im Spannungsfeld des Kalten Krieges – Vortrag in der Veranstaltungsreihe zum 60. Jubiläum des Ungarischen Volksaufstandes 1956.

Am 26. April 2016 lud der akademische Mittelbau der AUB zum zweiten Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum 60. Jubiläum des Ungarischen Volksaufstandes 1956 Stefan Maurer (Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Graz) zu dem Thema „‚Hingerichtet und wir leben dennoch.’ Das literarische Frühwerk György Sebestyéns im Spannungsfeld des Kalten Krieges“ ein. Durch den
Vortrag sollte der in Vergessenheit geratene österreichisch-ungarische Schriftsteller und Publizist György Sebestyén (1930–1990), der seit 2014 auch Namensgeber der Österreichbibliothek an der AUB ist, einem breiten Publikum zugänglich sowie auf sein politisches und literarisches Vermächtnis aufmerksam gemacht werden. Die Veranstaltung wurde von Dr. Susanne Bachfischer (Leiterin des Österreichischen Kulturforums in Budapest) eröffnet und von Ass.-Prof. Dr. Ursula Mindler-Steiner (AUB/ Universität Graz) moderiert.

Zu Beginn seines Vortrags wies Maurer, Experte für Literatur während des Kalten Krieges, auf die dichotome geopolitische Teilung der Welt nach 1947 und deren Auswirkungen auf Kunst und Kultur hin.
Einen besonderen Stellwert nehme dabei die Literatur ein, denn im Gegensatz zu anderen Kunstformen wie beispielsweise der abstrakten Kunst, der klassischen Musik oder dem Ballett hätte Literatur die Macht, um große Teile der Bevölkerung zu erreichen, zu beeinflussen und auf die Missstände der Regime aufmerksam zu machen. György Sebestyén sei durch seine von Kontinuitäten und Brüchen gekennzeichnete Biographie geradezu prädestiniert dazu, seine eigenen Erfahrungen in Form von
Texten und Geschichten im Spannungsfeld des Kalten Krieges zu publizieren. Er habe nicht nur beide
totalitären Systeme kennengelernt, sondern sei mit sechzehn Jahren der ungarischen Kommunistischen Partei beigetreten, der er aber schnell aufgrund von Diskrepanzen zwischen persönlichen Leitvorstellungen sowie Wunschbildern und der Realität ideologisch den Rücken gekehrt habe.

Im Zuge des Ungarischen Volksaufstandes von 1956 sei er nach Österreich geflüchtet. Bereits ein
Jahr nach der Flucht habe er dies in seinem Erstlingsroman „Die Türen schließen sich“ (1957) (der ungarische Originaltitel ist vielleicht noch treffender und lautet übersetzt „Türen ohne Klinken“; diese zentrale Metapher habe die Situation des ungarischen Volks während der Revolution widerspiegeln sollen) seine eigenen Erfahrungen und die Ereignisse rund um die „Katastrophenzeit“ zwischen 1949 und 1956 unter „Stalins bestem ungarischen Schüler“ Mátyás Rákosi (1892–1971), die schließlich in die Revolution 1956 mündeten, verarbeitetet. 

Sebestyén sei einer der ersten Autoren, die sich literarisch mit der ersten Zäsur des Kalten Krieges auseinandergesetzt habe. Seine Darstellungen würden vor allem durch die Dichte und den ausgesprochen hohen Grad an Authentizität bestechen. Welchen Stellwert das Erstlingswerk von Sebestyén auch durch seine politische Aktualität eingenommen habe, unterstreiche die Tatsache, dass der Roman unter anderem in London und New York in zwei unterschiedlichen Übersetzungen, „The Doors are Closing“ (1958) und „The Moment of Triumph“ (1958), sowie in einer niederländischen Fassung in Antwerpen
verlegt worden sei.

Acht Jahre nach seiner Flucht sei Sebestyén in die östliche Hemisphäre des politisch geteilten Europas zurückgekehrt und habe die Länder des Sozialismus bereist. Seine Eindrücke und Begegnungen habe er im Reisebricht „Flötenspieler und Phantome“ (1965) mit dem Untertitel „Reise durch das Tauwetter“ beschrieben. Sebestyén, der damals bereits österreichischer Staatsbürger geworden sei, habe unter anderem die kommunistischen Regime der Tschechoslowakei, Rumäniens, Bulgariens, Jugoslawiens, Albaniens und natürlich Ungarns bereist. Besonders die Rückkehr nach Budapest, das ihm nach eigenen Angaben keine Heimat mehr geboten habe, nehme bei Sebestyén im zentralen Kapitel „Die Wiederkehr“ eine wesentliche Stellung ein. Darin verweise er auf die durchaus positive Entwicklung Ungarns: „Nichts hat sich verändert; und was sich verändert hatte, das wandte sich, mit den Jahren nach 1956 verglichen zum Guten.“ (Flöten und Phantome; S. 73)

Neben seiner literarischen Tätigkeit habe sich Sebestyén vor allem auch kulturpolitischen Funktionen
gewidmet: So sei er Leiter des Arbeitskreises „Donauregion“ gewesen und oder habe die Zeitschrift „Pannonia“ gegründet. Er sei ein Anhänger einer „Mitteleuropakonzeption“ gewesen, deren Ziel es gewesen sei, eine kulturpolitische Perspektive für Mitteleuropa über die realpolitischen Gräben zwischen Ost und West hinaus zu entwickeln. Sebestyén sei durch seine Bemühungen zu einem westlichen Motor der österreichischen „Ostpolitik“ geworden und habe kurz vor seinem Tod 1990 in Wien noch den Fall des Eisernen Vorhangs im November 1989 miterleben können.

Text: Béla Teleky

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