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Gustav Stresemanns Verständigungspolitik und das Europa der „Zeitenwende“ 2022 - Das Verstehen als Voraussetzung für Verständigung, Zusammenarbeit und Frieden.
Im Rahmen der Ringvorlesungsreihe “Kunst der Diplomatie” anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten der Andrássy Universität sprach Dr. Heinrich Kreft, Leiter des Zentrums für Diplomatie, am 19. April über die Verständigungspolitik Gustav Stresemanns.

Prof. Dr. Zoltán Tibor Pállinger, Rektor der AUB und Leiter des Lehrstuhls für Politische Theorie und Europäische Demokratieforschung, präsentierte eingangs den Referenten und dessen diplomatischen Werdegang. Dr. Kreft, ehemaliger Botschafter Deutschlands in Luxemburg und derzeit Inhaber des Lehrstuhls für Diplomatie II und Leiter des Zentrums für Diplomatie der AUB, begann seinen Vortrag mit einer Vorstellung Gustav Stresemanns und dessen Entwicklung vom glühenden Nationalisten zum umsichtigen Staatsmann. Anders als viele seiner Zeitgenossen suchte Stresemann nach dem Ersten Weltkrieg die Schuld nicht bei inneren oder äußeren Feinden, sondern reflektierte die Gründe und bewies Optimismus, Kompromissfähigkeit und Nüchternheit. 

Als Frankreich im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzte und dem passiven Widerstand mit harten Reaktionen begegnete, bildeten die Parteien der Weimarer Republik eine Große Koalition unter Stresemann, der im August das Amt des Reichskanzlers übernahm. Nach nur hundert Tagen Kanzlerschaft, in denen er das Scheitern des passiven Widerstands und die Notwendigkeit einer neuen Politik gegenüber den Siegermächten anerkannte, übernahm er in der folgenden Regierung unter Wilhelm Marx das Außenministerium und trug in den folgenden Jahren zu einer erheblichen Verbesserung der Situation in Deutschland bei. Doch wie gelang ihm dieser diplomatische Coup, der ihm 1926 gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand den Friedensnobelpreis einbringen sollte?

Zwar lehnte auch er die Bedingungen des Versailler Vertrages ab, bemühte sich aber um einen konstruktiven Umgang mit Frankreich in dieser Frage. Diese Weitsicht und Empathie ist laut Kreft ein zentraler Grundsatz internationaler Diplomatie. Mit den Verträgen von Locarno erzielte er seinen größten politischen Erfolg und legte den Grundstein für die Wiedererlangung deutscher Souveränität sowie für die Aufnahme in den Völkerbund. Zuvor hatte der Dawes-Plan die Besetzung des Ruhrgebietes beendet und eine Neuregelung der in Versailles beschlossenen Reparaturzahlungen geschaffen, die Deutschland den wirtschaftlichen Aufschwung der „Goldenen Zwanziger“ bescherte. Gleichzeitig ist auch Stresemanns Politik nicht kritiklos zu sehen, der den Sicherheitsbedürfnissen Polens deutlich weniger konstruktiv begegnete und auch Ungarn in dessen Bemühungen um Neuverhandlungen des Trianon-Vertrags nicht unterstützte.

Welche Lektionen lassen sich aus der Verständigungspolitik Stresemanns für den Krieg in der Ukraine ziehen? Beim Angriff Russlands handele es sich um einen offenen Bruch des internationalen Völkerrechts, mit dem Krieg als politisches Mittel wieder etabliert werden solle. Dieser Zivilisationsbruch wurde vom deutschen Bundeskanzler Scholz als „Zeitenwende“ bezeichnet und werde die multilaterale Weltordnung laut Dr. Kreft langfristig verändern. Doch warum hat die Diplomatie hier versagt? Diese Frage kann zu diesem Zeitpunkt bestenfalls vorläufig beantwortet werden. Dabei hilft jedoch ein Rückblick auf die letzten 20 Jahre der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland vor dem Hintergrund der Frage, warum die Einbindung Russlands in die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung gescheitert ist.

Den Zusammenbruch der Sowjetunion bezeichnete der russische Präsident Putin bekanntlich als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Die USA wollten vermeiden, die UdSSR als Verlierer dastehen zu lassen, um Entwicklungen wie in Deutschland zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und also eine erneute Bedrohung durch Russland zu verhindern. Die Aufgabe des Westens war es also, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die unterschiedlichen europäischen Sicherheitsinteressen vereinbart werden und ein vereintes und friedliches Europa entstehen könnte. Ein wichtiger Unterschied zu Deutschland nach 1918 war jedoch, dass Russland keine demokratische Tradition, stattdessen jedoch Atomwaffen besaß. Außerdem lag der Fokus des Westens nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zunächst auf der Deutschen Einheit und der Zukunft der NATO.

Deren Auflösung zugunsten einer neuen, gesamteuropäischen Sicherheitsinstitution wurde nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Stattdessen nutzten die USA die NATO, um Einfluss auf die (sicherheits-)politischen Entwicklungen in Europa zu nehmen. Mit dem Partnership for Peace Programm (PfP) wurden die Beziehungen auch zu Nicht-Mitgliedsstaaten gestärkt – inklusive Russland. Dies resultierte zunächst in einer konstruktiven Zusammenarbeit bis hin zur Zustimmung Russlands zum NATO-Einsatz in Bosnien-Herzegowina 1995. Erste Dissonanzen traten bei der Frage einer Erweiterung der NATO nach Osteuropa auf. Auch einige Mitgliedsstaaten waren damals skeptisch, allerdings weniger aus Angst vor russischem Revanchionismus als vielmehr vor der inneren Instabilität der östlichen Staaten. Als 1999 dennoch Tschechien, Polen und Ungarn der Allianz beitraten, bemühte man sich im Beitrittsdokument um diplomatische Formulierungen, um Moskau nicht zu verärgern. Dennoch reagierte die Regierung Jelzin heftig und warf dem Westen vor, russische Sicherheitsinteressen ignoriert und Versprechen hinsichtlich eines Erweiterungsstopps nach der Deutschen Einigung gebrochen zu haben.

Dennoch blieben die Beziehungen zunächst konstruktiv. Mit der NATO-Russland-Grundakte war 1997 der diplomatische Rahmen geschaffen worden. Diese ging 2002 im NATO-Russland-Rat auf, in dem Entscheidungen gleichberechtigt nach dem Konsensprinzip getroffen wurden. Die Rolle der Ukraine für die europäische Sicherheitsarchitektur war vermeintlich 1994 mit dem Budapester Memorandum geklärt worden, in dem die Souveränität und territoriale Unversehrtheit des Landes zugesichert wurden. Im Gegenzug hatte Kiew die von der UdSSR im Land stationierten Atomwaffen an Russland übergeben. Auch strebte keine der drei Parteien einen Beitritt der Ukraine zur NATO an, deren Zusammenarbeit seit 1997 durch die NATO-Ukraine-Charta geregelt war.

Dennoch verschlechterten sich die NATO-Russland-Beziehungen in den kommenden Jahren. Moskau wurde seltener in Konsultationen einbezogen, auch wenn diese Sicherheitsinteressen Russlands betrafen. Einen Bruch stellte der NATO-Einsatz im Kosovo dar, der nicht über ein UN-Mandat verfügte und bei dem die besonderen Beziehungen zwischen Serbien und Russland ignoriert wurden, welches den Konflikt als eine innerserbische Angelegenheit verstand. Die PfP-Abkommen mit den Baltischen Staaten unter Aussicht auf einen Beitritt wurden zwar aus Moskau abgelehnt, aber als Sonderfall akzeptiert. Unter dem US-Präsidenten George W. Bush verschärfte sich die Rhetorik zwischen Russland und dem Westen, das sich durch den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur NATO zusehends als „eingekreist“ und seine sicherheitspolitischen Interessen als bedroht sah. Den Ausstieg der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) verstand Putin als Schmähung Russlands und die darauffolgende Stationierung eben solcher Systeme in den östlichen NATO-Staaten als direkte Provokation.

In Protest gegen die NATO-Osterweiterung suspendierte Russland 2007 den Vertrag über konventionelle Abrüstung in Europa. Die Zeit nach dem Kalten Krieg wurde zusehends als Demütigung Russlands dargestellt, wie in der bekannten Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, in der er den USA das Streben nach absoluter Dominanz vorwarf. Dr. Kreft, der bei dieser Konferenz oberhalb des Rednerpults saß, konnte dessen „wilde Gestik“ sowie zahlreiche Notizen und Erweiterungen auf dem Manuskript beobachten. Der russische Präsident betonte insbesondere den Vertrauensbruch durch die NATO-Erweiterung. Absätze seiner Rede, die gemeinsame Interessensfelder wie Energie und Weltraum betonten, wurden wenig zitiert. Stattdessen wurde das Narrativ eines neuen Kalten Krieges geprägt, das in den folgenden Jahren und insbesondere seit der Besetzung der Krim salonfähig wurde.

Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 forderten die USA die Aufnahme der Ukraine und Georgiens, erhielten jedoch keine Unterstützung durch europäische Partner, die Russland nicht weiter verärgern, vor allem aber keine Sicherheitsgarantien unter Artikel 5 übernehmen wollten. Als Kompromiss wurde in der Abschlusserklärung dennoch eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, an die viele der unterzeichneten Staaten jedoch nicht wirklich glaubten. Nur wenig später wurden die Folgen jedoch sichtbar, als der georgische Präsident Saakaschwili eine Eskalation des Streites um die abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien provozierte und Russland das Land angriff. Nur die USA unterstützen Tiflis mit Waffenlieferungen, der Konflikt ist bis heute nicht beigelegt. Trotzdem wurde der Satz, der den beiden Ländern eine Aufnahme verspricht, immer wieder in Schlusserklärungen übernommen, denn wie Dr. Kreft zu berichten wusste: „in der Diplomatie wird gerne abgeschrieben“.

Mit dem Streit um das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU und den als „Euromaidan“ bekannten Protesten in Kiew positionierte sich die Ukraine deutlich zwischen Ost und West und mit der Besetzung der Krim und der darauffolgenden Aufrüstung in den östlichen NATO-Staaten wich die Kooperation mit Russland endgültig einer Konfrontation. Cyber- und Desinformationsangriffe, vor allem aber der militärische Einfluss in Ländern wie Libyen, Syrien und der Zentralafrikanischen Republik stärkten das russische Selbstbewusstsein und strafte die Aussage von US-Präsident Obama Lügen, der Russland als „Regionalmacht“ bezeichnete. Mit der Eskalation des Ukraine-Konflikts schickt sich Putin nun an, das Land erneut als internationale Großmacht zu etablieren.

Hätte dieser Krieg diplomatisch verhindert werden können, wenn die Politik der Kooperation weitergeführt worden wäre? Laut Dr. Kreft lässt sich diese Frage nachträglich kaum beantworten. Sicher ist nur, dass der Krieg alles verändert und das Vertrauen langfristig zerstört hat. Auch Stresemann und Briand scheiterten mit dem Versuch, über das Locarno-Abkommen hinaus eine neue deutsch-französische Friedensordnung zu schaffen, nachdem ihre Vorschläge in Berlin und Paris abgelehnt worden waren. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es, eine neue europäische Ordnung zu schaffen, die zumindest der EU 70 Jahre Frieden bescherte.

Wenn sich eine Lehre aus dem Vergleich der 1920er Jahre mit den letzten 20 Jahren ziehen lässt, dann die, dass nur gegenseitiges Verständnis und Vertrauen die Grundlage einer neuen europäischen Sicherheitsordnung bilden können. Erst ein Ende der Kriegshandlungen wird einen neuen Anlauf zu diesem langwierigen Prozess erlauben, der viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Dr. Kreft ist sich jedoch sicher: „Dazu gibt es keine Alternative.“ Denn „Russland ist ein Teil Europas, und Geographie ist Schicksal“.

Frauke Mogli SEEBASS

2024-4 Mai 2024 2024-6
 
 
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