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Die oppositionellen Vorwahlen in Ungarn 2021

Bei den Parlamentswahlen 2014 und 2018 war deutlich geworden, dass die Opposition aufgrund ihrer Fragmentierung keine Chance hatte, die Mehrheit der Regierungsparteien Fidesz und KDNP zu brechen. Nach mehreren insgesamt erfolglosen Versuchen strategischer Absprachen der Oppositionsparteien vor den Parlamentswahlen 2014 erzielte die Opposition im Februar 2018 bei der Bürgermeisterwahl in Hódmezővásárhely durch die Unterstützung eines gemeinsamen Kandidaten einen Erfolg. Bei den Kommunalwahlen 2019 wurde diese Strategie erfolgreich weiterentwickelt, so dass es der Opposition gelang, das Bürgermeisteramt der Hauptstadt zu erobern. Diese Erfahrungen waren ausschlaggebend für den Zusammenschluss der Opposition im Vorfeld der Parlamentswahlen 2022.

Im August 2020 kündigten sechs Oppositionsparteien in einem gemeinsamen Statement an, Konsultationen über die Vorbereitung der Parlamentswahlen im April 2022 zu beginnen. Die beteiligten Parteien Demokratische Koalition (DK), Ungarische sozialistische Partei (MSZP), Parbeszéd (Dialog), Politik kann anders sein (LMP), Momentum und Jobbik decken fast das gesamte politische Spektrum von links bis rechts ab. Die Vorsitzenden der Parteien einigten sich außerdem darauf, jeweils nur einen gemeinsamen Kandidaten in den 106 Einerwahlkreisen zu nominieren. Im Oktober 2020 erklärten sie, dass sie sich bis zum 23. Oktober 2021 auf einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten einigen werden.

Ungefähr einen Monat später legte die Regierung einen Vorschlag zur Modifizierung des Wahlgesetzes vor, welcher veränderte Bedingungen für das Aufstellen von Parteilisten beinhaltete. Die bisherige Regelung sah vor, dass eine Partei in mindestens 9 Komitaten und der Hauptstadt in insgesamt mindestens 27 Wahlkreisen eigene Kandidaten aufstellen musste, um mit einer Liste antreten zu können. Durch die im Dezember 2020 schließlich definitiv verabschiedete Modifizierung wurden die Bedingungen so verschärft, dass eine Partei in mindestens 14 Komitaten und der Hauptstadt in insgesamt mindestens 71 Wahlkreisen mit eigenen Kandidaten antreten muss, um eine Liste vorlegen zu können. Dadurch wurde eine strategische Absprache von getrennt antretenden Parteien bei der Aufstellung von gemeinsamen Kandidaten in den 106 Einerwahlkreisen unmöglich gemacht.

Darauf reagierte die vereinigte Opposition am 20. Dezember 2020 mit der Ankündigung, bei den Wahlen 2022 mit einer gemeinsamen Liste anzutreten. Sie verabschiedete außerdem unter dem Namen “Zusammenschluss der Opposition” (Ellenzéki Összefogás) ein Dokument mit dem Titel „Garantien für einen Epochenwechsel“ (Korszakváltás garanciái), das Richtlinien für die Zusammenstellung der gemeinsamen Liste enthält. Daneben wurde festgelegt, dass die Kandidaten in den Einerwahlkreisen und für das Amt des Ministerpräsidenten mit Hilfe einer Vorwahl bestimmt werden sollen. Ziel des Parteienbündnisses ist es, das System Orbán abzubauen. Im gemeinsamen Statement wird außerdem betont, dass die gemeinsame Liste nicht bedeutet, dass eine neue Partei gegründet wird, sondern die Parteien ihre Eigenständigkeit bewahren, da sie jeweils über „eine klare Wertordnung und eine eigenständige Identität“ verfügten.

Die Vorwahlen

Zur Vorbereitung der Vorwahlen wurde im Frühjahr 2021 eine Landesvorwahlkommission (Országos Előválasztási Bizottságot, OEVB) ins Leben gerufen, die für die Koordination der landesweiten Aufgaben sowie die Organisation der operativen Durchführung und der damit verbundenen Entscheidungen zuständig war. Die sechs Parteien delegierten jeweils einen Vertreter in die Kommission. Außerdem wurde ein Vertreter der NGO aHang (www.ahang.hu), welche für die technische Abwicklung der Vorwahlen verantwortlich war, als ständiges Mitglied ohne Stimmrecht beigezogen. Um die Entscheidungen der OEVB umzusetzen und die administrative Abwicklung zu gewährleisten, wurde von den Parteien ebenfalls auf paritätischer Basis ein Landeswahlbüro (Országos Választási Irodá, OVI) geschaffen. Schließlich wurden in den 106 Einerwahlkreisen lokale Wahlkommissionen (Helyi Előválasztási Bizottságok, HEVB) gebildet. Mit diesem Vorgehen haben die an den Vorwahlen beteiligten Parteien und Zivilorganisationen ein System aufgebaut, welches die staatlichen Institutionen zur Organisation von Wahlen kopiert (https://elovalasztas2021.hu/). Ebenso war auch das Nominierungsverfahren der Kandidaten an das im ungarischen Wahlgesetz vorgesehene Verfahren angelehnt. Entsprechend mussten Kandidaten für die Einerwahlkreise mindestens 400 Unterschriften und die Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten mindestens 20.000 Unterschriften sammeln.

Wahlberechtigt waren alle ungarischen Staatsbürger mit ständigem Wohnsitz in Ungarn, die zum Zeitpunkt der Parlamentswahlen im Frühjahr 2022 volljährig sein werden. Ein besonders innovatives Element der Vorwahlen war die Tatsache, dass die Stimmen sowohl persönlich in den dazu eingerichteten ca. 800 “Abstimmungspunkten” als auch online über das von aHang entwickelte ELEVE-System (https://ahang.hu/elovalasztas/eleve.php) abgegeben werden konnten.

Die Vorwahlen wurden in zwei Wahlrunden im September und Oktober 2021 organisiert. Die erste Runde fand zwischen dem 18. und 28. September statt, die zweite zwischen dem 10. und 16. Oktober. Ursprünglich sollte die erste Runde vom 18. bis zum 26. September und die zweite Runde vom 4. bis zum 10. Oktober laufen. Da das ELEVE-System nach dem Start durch einen Hackerangriff lahmgelegt wurde, wurde der erste Wahlgang verlängert und der zweite entsprechend verschoben.

Um die Integrität des Wahlprozesses sicherzustellen, mussten sich die Abstimmenden in der ersten Wahlrunde in den örtlichen “Abstimmungspunkten” mit ihrem Personalausweis und ihrer Meldekarte (lakcímkártya) ausweisen, weil sie bei der Abstimmung über die Kandidaten in den Einerwahlkreisen nur an ihrem Wohnsitz ihre Stimme abgeben konnten. In der zweiten Wahlrunde, in der nur noch über die Person des Spitzenkandidaten entschieden wurde, konnte überall abgestimmt werden. Entsprechend reichte der Personalausweis. Für die Online-Wahl war eine vorherige Registrierung notwendig, bei welcher die Identität verifiziert wurde.

An der Durchführung der Abstimmung und der Auszählung der Ergebnisse waren ca. 10.000 Freiwillige und 1.000 Mitarbeiter für den Online-Bereich beteiligt. Die gesamten Vorwahlen wurden ohne staatliche Unterstützung ausschließlich durch zivilgesellschaftliches Engagement ermöglicht.
In der ersten Wahlrunde haben 633.686 Menschen ihre Stimme abgegeben, in der zweiten 664.129. Insgesamt ist es gelungen, 850.000 Menschen zur Teilnahme an mindestens einer der beiden Wahlrunden zu mobilisieren. Dieses Ergebnis hat die Erwartungen der Organisierenden bei weitem übertroffen.
In der ersten Wahlrunde wurden die gemeinsamen Kandidaten für die 106 Einerwahlkreise bestimmt. DK konnte 32, Jobbik 29, MSZP 18, Momentum 15, Párbeszéd sechs, LMP fünf und Sonstige einen Kandidaten durchbringen (https://elovalasztas2021.hu/).

Von den fünf angetretenen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten konnten drei die 15-Prozent-Schwelle überschreiten und sich damit für die Teilnahme an der Stichwahl qualifizieren. Die meisten Stimmen erhielt Klara Dobrev von der DK (35%). Auf dem zweiten Platz landete Gergely Karácsony von Parbeszéd (27%) und auf dem dritten Péter Márky-Zay von Mindenki Magyarországa Mozgalom (Ungarn für alle Bewegung) (20%). Nach der Bekanntgabe des Ergebnisses begannen sich die Parteien im Hinblick auf die Unterstützung eines der Kandidaten zu positionieren. Um den sich abzeichnenden Wahlsieg von Dobrev zu verhindern, nahmen Karácsony und Márky-Zay Verhandlungen auf, um auf einem gemeinsamen Ticket im zweiten Wahlgang anzutreten. Nachdem die OEVB dieses Ansinnen abgelehnt hatte, entspann sich ein Tauziehen darüber, wer von beiden die besseren Chancen bei den Wahlen 2022 hätte und wer deshalb zugunsten des anderen zurücktreten sollte. Dabei gelang es dem Außenseiter Márky-Zay, der sich zur “Opposition der Opposition” stilisierte, den Favoriten Karácsony aus dem Rennen zu drängen. Damit standen nur noch zwei Kandidaten zur Wahl und der Wahlausgang erschien wieder offen. Nach einem kurzen intensiven Wahlkampf setzte sich schließlich Márky-Zay gegen Dobrev mit 57 zu 43 Prozent durch. Trotz des überraschenden Wahlausgangs akzeptierten alle Akteure das Ergebnis und versicherten ihre Unterstützung für Márky-Zay. Gleichzeitig bekräftigten sie ihren Willen, bei den Parlamentswahlen gemeinsam anzutreten.

Rund um die Vorwahlen gelang es der Opposition nach langer Zeit erstmals, aktiv im öffentlichen Diskurs präsent zu sein und große mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Auf die wider Erwarten große Resonanz der Vorwahlen reagierten die Regierungsparteien mit einer heftigen Gegenkampagne, die darauf abzielte die Glaubwürdigkeit des oppositionellen Zusammenschlusses und der Spitzenkandidaten zu erschüttern. Dennoch hat die Opposition mit den Vorwahlen ihre Fähigkeit zur Mobilisierung und ihr Potenzial für parteiübergreifende Zusammenarbeit unter Beweis stellen können.

Das große Engagement der vielen Freiwilligen bei der Organisation der Vorwahlen kann als kräftiges Lebenszeichen der Zivilgesellschaft gewertet werden. Durch diesen Erfolg wurden sich die oppositionellen Kräfte ihrer Möglichkeiten bewusst und es konnte so etwas wie eine Aufbruchsstimmung erzeugt werden. Davon zeugen nicht nur die persönlichen Erfahrungsberichte der Beteiligten, sondern auch die Meinungsumfragen unmittelbar nach den Vorwahlen. In diesen lagen Regierung und Opposition praktisch gleichauf.

Allerdings gelang es der Opposition nicht, das Momentum der Vorwahlen aufrecht zu halten. Stattdessen agierte sie eher passiv und war mit der Überwindung interner Konflikte beschäftigt. Insbesondere entbrannte eine kontroverse Diskussion über das einzuschlagende Vorgehen nach einem möglichen Wahlsieg. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, wie mit dem Erbe der unter der Regierung Orbán verabschiedeten Verfassung umgegangen werden soll, welche die Handlungsoptionen zukünftiger Regierungen einschränkt, wenn diese nicht über die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit verfügen.

Erst nach monatelangen Verhandlungen konnte sich das oppositionelle Bündnis, welches nun unter dem Namen “Gemeinsam für Ungarn” (Egységben Magyarországért) auftritt, auf die gemeinsame Liste für die Wahlen einigen. Diese umfasst die entsprechend dem Wahlgesetz maximal mögliche Zahl von 279 KandidatInnen. Die Liste wurde erst am 24. Februar 2022 fertiggestellt, zwei Tage vor dem Ablauf der Einreichungsfrist beim Nationalen Wahlbüro. Von den ersten 45 Plätzen, die als chancenreich für einen Einzug ins Parlament gelten, fielen 14 an die DK, 12 an Jobbik, 8 an Momentum, 8 an MSZP und Párbeszéd und 3 an LMP. Die Liste wird vom gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten Péter Márki-Zay angeführt, auf den Plätzen zwei bis fünf folgen die anderen bei den Vorwahlen angetretenen Spitzenkandidaten.

Die vereinigte Opposition hat unter Leitung von Márky-Zay ein gemeinsames Regierungsprogramm erarbeitet. Dieses stützt sich auf das Ergebnis eines öffentlichen Konsultationsprozesses, in welchem die Parteien zunächst Thesen zu zentralen Politikbereichen formuliert und auf der Internetseite www.kozosalap.hu zur Diskussion gestellt haben. Dabei waren alle BürgerInnen aufgerufen, ihre Inputs zu den Thesen einzusenden. Allerdings konnte das gemeinsame Programm “Nur nach oben! - Das Programm des aufstrebenden Ungarns” (Csak felfelé! - Az emelkedő Magyarország programja) erst am 10. März 2022, drei Wochen vor dem Wahltermin, veröffentlicht werden. Danach geht es bei der Wahl um die Grundsatzentscheidung “Orbán oder Europa?”. Das Programm umfasst neun Punkte, in welchen die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit, die Aufdeckung der Vergehen der zwölfjährigen Fidesz-Herrschaft sowie eine gerechtere Gesellschaft angestrebt werden Damit soll ein “europäisches Ungarn” verwirklicht werden, das von allen als gemeinsame Heimat empfunden werden kann. Dass die Opposition die nach den Vorwahlen bestehende Aufbruchsstimmung nicht dauerhaft aufrechterhalten konnte, spiegelt sich auch in den Meinungsumfragen. Hier liegen die Regierungsparteien inzwischen wieder klar vor der Opposition. Der Wahlkampf wird überschattet durch den russischen Angriff auf die Ukraine. Allerdings lassen sich die Auswirkungen dieses Ereignisses auf den Wahlausgang noch nicht abschätzen. Trotzdem lässt sich abschließend festhalten, dass die Opposition in den letzten zwölf Jahren nie eine bessere Ausgangslage gehabt hat.

Ellen BOS und Zoltán Tibor PÁLLINGER

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