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Doktoranden tagten über die ver-rückten Lebenswelten im sozialistischen/kommunistischen Mitteleuropa
Doktoratskolleg für Mitteleuropäische Geschichte

Die diesjährige vom Doktoratskolleg der Fakultät für Mitteleuropäische Studien ausgetragene Doktoranden-Tagung stand unter dem Motto „Ver-rückte Lebenswelten!? Kommunismus und Sozialismus in Mitteleuropa“. Rund 20 Dissertanten kamen für die bereits zum dritten Mal stattfindende Tagung an der Andrássy Universität (AUB) in Budapest am 7. und 8. November 2013 zusammen, um ihre Dissertationsprojekte vorzustellen und Fragen rund um Lebenswelten im Sozialismus zu diskutieren.

Mit einem Vortrag von Prof. GEORG KASTNER, Dekan der Fakultät für Mitteleuropäische Studien an der AUB, wurde die Tagung eröffnet. Prof. KASTNER betonte in dem Beitrag, dass die spätestens mit dem Revolutionsjahr 1917 losgetretenen ideellen Verschiebungen nicht nur auf die äußere politische Ordnung immensen Einfluss hatten, sondern vor allem auch die Lebenswelten der Menschen „ver-rückt“ hatten. Einige dieser „Ver-rückungen“ wurden Gegenstand der Tagung.

Das erste Panel  zur „frühen sozialistischen Idee“, geleitet von RICHARD LEIN (AUB), begann mit einem Beitrag von ANETT HAJNAL (AUB). Sie untersuchte den Einfluss der deutschen Sprache in der Budapester Arbeiterbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Während der deutschen Sprache innerhalb der ungarischen Arbeiterbewegung zunächst eine große Bedeutung zukam, schwächte sich diese mit der Festigung der Bewegung ab. Beinahe sinnbildlich ist, dass in dem Arbeiterblatt „Volksstimme – Népszava“ Ungarisch und Deutsch zunächst parallel verwendet wurden. Schon zur Jahrhundertwende überwog in Arbeiterzeitungen und in der Bewegung die ungarische Sprache.

DANIELA JAVORICS (AUB) beschrieb in dem darauf anschließenden Beitrag „Zukunftsentwürfe des Sozialismus“ die Jahre zwischen 1890 und 1920. Ein regionaler Fokus ihrer Darstellung lag auf der historischen Region Österreich-Ungarn. In den Debatten um die Zukunft der Monarchie kam der Nationalitätenfrage eine besondere Bedeutung zu. Sie stellte in ihrem Beitrag die Ansichten der sozialdemokratischen Partei um Karl Renner denjenigen der kommunistischen Partei in Ungarn gegenüber.

Die Entwicklung der „Straßennamen des Roten Wien“ im Zeitraum zwischen 1919 und 1934 war Thema des Referats von PATRICK JAIKO (AUB). Deutlichste Veränderung in diesem Kontext war die rücksichtslose Streichung aller Monarchie-nahen Straßennamen und deren Ersetzung durch historische Daten und/oder berühmte Persönlichkeiten, die der Arbeiterbewegung auf den ersten Blick nahe standen. Ein Beispiel ist die Umbenennung der Wiener Maximilianstrasse in Mahlerstrasse, nach dem Komponisten und Wiener Operndirektor Gustav Mahler 1860-1911. 

Das zweite Panel der Tagung „Identities in Socialism“ wurde von MELANI BARLAI (Donauinstitut/ AUB) geleitet. ESZTER JÓNI (Universität Pécs) machte mit ihrem Beitrag zum Thema „The Zhenotdel 1919 to 1930“ den Auftakt. Sie behandelte darin Emanzipationsbestrebungen innerhalb der frühen sozialistischen Bewegung. Am Beispiel des Zhenotdel, einer dem Zentralkomitee der Partei angegliederten Abteilung zur rechtlichen und lebensweltlichen Emanzipation von Frauen, zeigte JÓNI, dass die kommunistische Führung die Rechtsgleichheit von Frauen mit verschiedenen gesetzlichen Maßnahmen zunächst unterstützte. Bereits kurze Zeit später aber ging die Partei im Sinne der Automatismus-Idee davon aus, dass Rechtsgleichheit und Emanzipation erreicht seien – der Zhenotdel wurde 1930 eingestellt.

RÉKA KRIZMANICS (Central European University Budapest) beschäftigte sich in ihrem Vortrag zum Thema „Praxis Group – Man as Practice and History (?)“ mit der sozialphilosophischen Praxis-Schule, die im Jugoslawien Tito´s einen „humanistischen Marxismus“ zu etablieren suchte. Die Gruppe veröffentlichte in den frühen 1970er Jahren die philosophische Zeitschrift Praxis und veranstaltete regelmäßig Sommerschulen an den Universitäten des Landes. Der Gruppe ging es darum die sozialistische Idee zu rekonzeptualisieren und letztlich auch darum politische Reformen anzudenken – die Zeitschrift Praxis wurde 1975 verboten.

Mit den „Medien im Sozialismus“ beschäftigte sich das erste Panel am zweiten Veranstaltungstag, das von URSULA MINDLER (AUB) geleitet wurde. Den Auftakt machte JUDIT KLEIN (AUB). Sie sprach in ihrem Vortrag über die „(unfreie) Presse im sozialistischen Ungarn am Beispiel der Minderheitenjournalisten“. KLEIN betonte, dass die Medienzensur im sozialistischen Ungarn im Zeitraum zwischen 1948 bis zu den 1980er Jahren nur einem geringfügigen Wandel unterlegen war. Zunächst waren die Ziele der Presse von Rákosi vorgegeben. Die spätere Abnahme repressiver Zensur führte jedoch lediglich zur Selbstzensur.

„Die Journalistinnen und Journalisten der kommunistischen Parteizeitung Österreichische Volksstimme“ waren Thema des Vortrags von MARIA FANTA (AUB). Anhand dreier Biographien von Journalisten des Zentralorgans der Kommunistischen Partei Österreichs zeigte sie, dass es innerhalb der Volksstimme keine charakteristische Journalisten-Biographie gegeben hat, dass aber die innere Zerrissenheit all diesen Lebensgeschichten gemeinsam ist.

LAZIM AHMEDI (AUB) brachte „Ver-rückte Karikaturen“ mit zur Konferenz, mit deren Hilfe er anschaulich „Eine etwas amüsantere Facette der sozialistischen Lebenswelt Albaniens“ aufzeigen konnte.  In seinem Beitrag stellte AHMEDI ein bislang nur wenig erforschtes Land vor, das sich selbst als „allein gegen alle“ verstand und viele Feindbilder sowohl in der kapitalistischen, als auch in der sozialistischen Welthälfte fand – nur die eigene Parteiführung wurde in den Karikaturen der satirischen Zeitschrift Hosteni (dt. Ochsenstachel) verschont.

„Fighting fire with fire“: unter diesem Motto stand der Beitrag von FABIENNE GOUVERNEUR (AUB), die damit die Ausrichtung der US-amerikanischen Medienpolitik in Nachkriegsdeutschland und  Mitteleuropa nach 1945 beschrieb. In ihrem Referat betonte sie, dass amerikanische Medien- und Informationspolitik in Europa nach dem zweiten Weltkrieg „die Umerziehung der Deutschen“ zum Ziel hatte und  Entnazifizierung und Antikommunismus unterstützte. Dieser Linie folgend wurde der ungewöhnliche Weg eingeschlagen sowjetische Propaganda mit amerikanischer Propaganda zu bekämpfen, wie sie es anhand von Korrespondenzen aufzeigte.

Das zweite Vormittags-Panel, geleitet von ORSOLYA LÉNÁRT (AUB), stand unter dem Motto „Umdeutungen“. Diesen Gedanken fasste ERIKA REGNER (AUB) in ihrem Auftaktvortrag auf und sprach zum Thema „Wechselnde Ideologien. Fallbeispiele/Beispiele des Falls.“ In ihrem Beitrag näherte sie sich der „ver-rückten“ Lebenswelt im Sozialismus anhand der Werke und Autorenbiographien von Zoltán Zelk (1906-1981) und József Darvas (1912-1973) an. Dabei dienten die beiden Biographien als Beispiele, wie mit politischen Umbrüchen im System umgegangen wurde. Zelk stand für den Rückzug ins Private, während Darvas sich jedem System anpasste und auch politische Posten übernahm. 

KATHARINA HABERKORN (AUB) analysierte in ihrem Vortrag die Folgen des Personenkults im Sozialismus am Beispiel der Region Chernivtsi (Czernowitz) in der heutigen West-Ukraine. Gerade auch Statuen und Bilder im öffentlichen Raum bedienten in den sozialistischen Ländern den Personenkult um Lenin und Stalin. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 hatte sich der öffentliche Umgang mit Stalin und anderen aber grundlegend verändert. Das wiederum führte in der Folge zu zahlreichen Auswechslungen von Statuen. In Chernivtsi trat Michail Kalinin, bis 1946 formelles Staatsoberhaupt der Sowjetunion, an die Stelle der Stalin-Statue im Stadtpark.

Im Anschluss daran setzte sich SEBASTIAN SPARWASSER (AUB) in seinem Vortrag „Zwischen Anpassung und kultureller Selbstbehauptung“ mit den Lebenswelten der sogenannten „hazatértek“, der Heimgekehrten,  auseinander. Die „hazatértek“ sind eine Personengruppe, die aufgrund ihres deutschen Sprachgebrauchs nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ungarn in das besetzte Deutschland ausgesiedelt wurde, um danach freiwillig wieder in ihre ungarische Heimat zurückzukehren. Zentrales Moment ihrer Rückkehr war die Sehnsucht nach „der alten Heimat“, wobei sie sich bei ihrer Rückkehr in das nunmehr sozialistische Ungarn nicht nur mit aufgebrochenen Gemeinschaften, sondern auch mit einem voranschreitenden Assimilationsdruck konfrontiert sahen.

ANDRA DRĂGHICIU (AUB) stellte die Lebenswelt ausländischer Studierender in der sozialistischen Republik Rumänien in dem Zeitraum zwischen 1974 bis 1989 vor. Grund für die hohen ausländischen Studierendenzahlen aus  Lateinamerika, Afrika und Asien war Ceaușescu´s außenpolitische Orientierung auf diese Länder. Der Fokus des Vortrags lag auf der Gruppe der arabii – ein Sammelbegriff unter dem die Studierenden aus dem Nahen Osten subsumiert wurden. Diese pflegten Kontakte zu rumänischen Studierenden und engagierten sich politisch. Dabei  unterstanden sie aber auch der Überwachung der Securitate.

Das letzte Panel der Tagung „DDR und Untergrund“ leitete FRIEDERIKE GOLLMANN (AUB). UTA BRETSCHNEIDER (Universität Jena) eröffnete das Panel mit einem Beitrag zu Neubauernfamilien in der DDR im „sozialistischen Frühling“. In ihrem Beitrag beschrieb sie die Transformationsprozesse im ländlichen Raum durch die Eingliederung der bäuerlichen Betriebe in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) im Zuge der Bodenreform im Zeitraum 1945-1952. Die tiefgreifenden Auswirkungen auf individuelle Lebenswelten wurden durch lebensgeschichtliche Beschreibungen dargestellt, welche BRETSCHEIDER durch Archivalien und Interviews aus dem Ort Kloster Veßra (Thüringen) darstellte. 

MEIKE HAUNSCHILD (Universität Freiburg) sprach in ihrem Beitrag über Armut und „Randgruppen“ in der DDR. Anhand des von ihr analysierten Quellenmaterials stellte sie eine offizielle Kategorisierung von Armut in der DDR fest:  würdig-unverschuldete Armut durch Krankheit und Alter und unwürdig-selbstverschuldete Armut durch Alkoholismus, Drogen oder „asoziales“ Verhalten. Beiden Gruppen gemein ist ihre Marginalisierung im sogenannten workfare state, in dem Arbeit zum bestimmenden Moment des Lebens wurde. Einzige Möglichkeit sich diesem System zu verweigern stellte die Saisonarbeit und Gelegenheitsarbeit dar, welche vor allem von „Randgruppen“ zur kurzweiligen Verbesserung ihrer Situation genutzt wurde.

Im letzten Beitrag der Doktoranden-Konferenz widmete sich MARTIN THIELE (Hochschule für Bildende Künste Braunschweig) nachgemachten Gesellschaftsspielen in der DDR. Aufgrund der geringen Produktionszahlen, teuren Anschaffungskosten und auch aufgrund von Verboten wurden Gesellschaftsspiele von der Bevölkerung kopiert oder neue Spiele erfunden. Die Abwandlung des Spiels Monopoly, mit eigenen Ereigniskarten und Spielfeldern erfreute sich großer Beliebtheit. „Bürokratopoly“, eine Abwandlung von „Monopoly“, welches inhaltlich den Aufstieg vom Arbeiter zum Generalsekretär zum Ziel hatte, zirkulierte in oppositionellen Kreisen und wurde von der Staatssicherheit mit einer eigenen Akte versehen. Der große Fundus an Gesellschaftsspielen die THIELE bislang zusammengetragen hat, bildet nicht nur eine anschauliche Materialsammlung, sondern ist auch ein eindrückliches Abbild der Lebensrealität im sozialistischen System der DDR.

Abschließend ist festzustellen, dass die „ver-rückten Lebenswelten“ des Sozialismus auf der Tagung sicher nur ausschnittsweise erfasst werden konnten – gerade hierin aber zeigte sich auch die Vielseitigkeit des Phänomens. Der Sozialismus, wie er sich nicht erst seit dem Revolutionsjahr 1917 zu etablieren begann, hatte nicht nur unterschiedlichste politische und strukturelle Ausprägungen in Mittel- und Osteuropa entwickelt, sondern (beinahe) alle Lebensbereiche erfasst.

Text: 4. Jahrgang des Doktoratskollegs der Fakultät für Mitteleuropäische Studien an der Andrássy Universität Budapest

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