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Die Rolle der Religion und der Kirchen in einem säkularen Staat
Neue Friedensbemühungen und Herausforderungen in der Gesellschaft erfordern mehr religiöse Kompetenz und Sensibilität sowie die Bereitschaft mit den Religionsgemeinschaften zusammenzuarbeiten. Wie ist das Verhältnis zwischen Staat und Religion heute?

Der Vortrag von SE Kardinal Péter Erdő, Erzbischof von Esztergom und Budapest im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Religion und Diplomatie" fand am 18. Mai statt.

In seiner Einführung wies Dr. Heinrich Kreft, Leiter des Lehrstuhls für Diplomatie II, darauf hin, dass Religion als politischer Faktor vor allem in Europa lange Zeit unterschätzt wurde, insbesondere in den internationalen Beziehungen. Die Globalisierung habe jedoch zu einer weltweiten Zunahme der religiösen Vielfalt geführt, die mehr Toleranz und Respekt erfordere. Religion sei in fast allen Regionen der Welt eine mächtige politische und soziale Gestaltungskraft. Neue Friedensbemühungen und Herausforderungen in den internationalen Beziehungen erforderten mehr religiöse Kompetenz und Sensibilität in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Bereitschaft zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Religionsgemeinschaften, so Kreft.

SE Kardinal Péter Erdő, Erzbischof von Esztergom und Budapest, begann seinen Vortrag mit den Worten, dass die Rolle von Kirche und die Religion im säkularen Staat eine hochaktuelle Frage sei, da wir uns in einer tiefen und ernsten Krise befänden, die sich mit dem Wort "Relativismus" zusammenfassen lasse. Das bedeute, dass wir als Gesellschaft immer weniger in der Lage seien, zu sagen, was "gut" oder "schlecht", "wahr" oder "falsch" sei (sogar unsere Nachrichten seien oft "gefälscht"), weil nach der vorherrschenden Meinung alles "relativ" sei. Kardinal Erdő gliederte seinen Vortrag in fünf Teile. Am Anfang setzte er sich definitorisch mit der Thematik auseinander, gefolgt von einer Beschreibung des Verständnisses der Rolle der Religion im Staat im 20 Jahrhundert. Im dritten Teil thematisierte Erdő die wichtigsten Lehren aus dem Zusammenbruch des Kommunismus, im vierten über neue Technologien zur Regelung des Sozialverhaltens ohne Gesetz und Moral, und zog im fünten Teil die Schlussfolgerungen.

In seiner Darstellung betonte Erdő, dass die Entstehung größerer menschlicher Gemeinschaften (durchsetzbare) Regeln des sozialen Verhaltens (Gesetze) hervorgebracht hätten. Recht, Moral und Religion hätten sich als ein organisches Ganzes entwickelt, was für die westlichen Gesellschaften bis zur Aufklärung charakteristisch gewesen sei. Erst in der Aufklärung beriefen sich die großen Intellektuellen auf das Naturrecht, das der menschliche Verstand aus der ihn umgebenden Welt ableiten konnte und auf das sich Gesetze unabhängig von religiösen Ansichten stützen ließen. Die ersten Erklärungen der Menschenrechte spiegeln diese philosophische Sichtweise ausdrücklich oder zumindest indirekt wider. In diesem Kontext sei  die Idee der religiösen Toleranz entstanden, da das Funktionieren des Staates und die Legitimität des Rechtssystems nicht mehr von den Lehren der einen oder anderen Religion abhingen. Solange das Funktionieren des Staates eng mit der offiziellen Religion verknüpft war, rechtfertigte der Gesetzgeber selbst die Bestrafung bestimmter Handlungen - wie z. B. Blasphemie - mit der Begründung, dass Gott die ganze Nation mit Naturkatastrophen bestrafen würde, wenn sie diese dulde. Das preußische Landrecht von 1794 habe den ersten Grundstein für den modernen nichtreligiösen Begriff der Gotteslästerung gelegt. Ab dem 19. Jahrhundert tauche die Idee der Trennung von Recht und Staat vom Rest der Wirklichkeit auf. Nach den Theorien der Aufklärung war das Wesen des Naturrechts noch recht nahe an der jüdisch-christlichen Moralvorstellung. In dieser Zeit begannen die philosophischen Grundlagen dieser Konzeption des Naturrechts ihre Überzeugungskraft zu verlieren. Die Idee der Relativität des Naturrechts bzw. der Regeln für rechtschaffenes menschliches Verhalten, die auf einer Verbindung mit der Natur und der Trennung des Rechts von der so genannten natürlichen Moral beruhen, wurde verstärkt.

Darauf aufbauend stellte Erdő die Frage "Funktioniert das Rechtssystem für sich allein, isoliert von anderen gesellschaftlichen Normen?", die er anhand der Erfahrung der kommunistischen Staaten Europas beantwortet. Ziel sei es gewesen, den freiwilligen Gehorsam gegenüber dem Gesetz zu fördern. Da es jedoch im Marxismus-Leninismus keine Form der religiösen Legitimation oder, allgemeiner ausgedrückt, keine Form der Anerkennung des Naturrechts gab, seien viele Konferenzen und Studien zu dem Schluss gekommen, dass der Inhalt der sozialistischen Moral immer das geltende Strafgesetzbuch sei. Aber wenn der Inhalt der Moral einfach das Strafgesetzbuch sei, sei es unwahrscheinlich, dass eine solche Moral die Autorität der Gesetze stärke. Der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy sah sich mit demselben Problem konfrontiert und argumentierte in seinem 2004 erschienenen Buch "Republik, Religion und Hoffnung", dass es nicht ausreiche, junge Menschen nur auf der Grundlage einer hohen Achtung vor den Werten des Staates und der Republik zu erziehen. Er war der Meinung, dass es gut wäre, die Distanz zwischen dem Staat und den Religionen zu verringern und die Religionsgemeinschaften stärker in die Gesellschaft zu integrieren. Diesem Gedanken lag die Einsicht zugrunde, dass der Staat moralische Unterstützung braucht, um zu funktionieren, und dass er auch Werte brauche, die er nicht selbst schaffen könne. Sie müssen sowohl aus der Gesellschaft als auch aus den Religionsgemeinschaften kommen.

Nach dem Fall der Berliner Mauer wurden in Mittel- und Osteuropa schrittweise Gesetze zur Religions- und Gewissensfreiheit wieder eingeführt. In vielen Ländern wurden neue Verfassungen verabschiedet. In diesen Gesetzen werden die Kirchen und Religionsgemeinschaften mehrfach als wichtige und wertvolle Faktoren in der Gesellschaft erwähnt. In Ungarn zum Beispiel heiße es in der Präambel des Vierten Gesetzes von 1990 ausdrücklich, dass "Kirchen, Konfessionen und Religionsgemeinschaften in Ungarn Institutionen von herausragender Bedeutung sind, die Werte und Gemeinschaften schaffen können". In der Präambel des Abkommens zwischen Lettland und dem Heiligen Stuhl aus dem Jahr 2000 werde u.a. der Beitrag der katholischen Kirche zur religiösen und moralischen Entwicklung, zur sozialen Rehabilitation und zur Wiedereingliederung der Republik Lettland anerkannt.

Erdő schloß mit einer der Schlussfolgerungen, dass angesichts der neuen Herausforderungen viele der Meinung seien, dass wir eine so genannte nachhaltige Entwicklung anstreben sollten, nicht nur im wirtschaftlichen Bereich und nicht nur zur Vermeidung von Umweltzerstörung. Auch im Bereich der Wissenschaft können die Ergebnisse ohne rechtliche und moralische Kontrolle eher zur Zerstörung der Menschheit beitragen als zu ihrem Glück. Sie beruhe auch auf dem Gefühl oder dem Glauben, dass es für die Menschheit besser sei, zu existieren als nicht zu existieren. Aus diesem Grund sei es wichtig, dass die Gesellschaft sich um eine religiöse und moralische Reflexion über neue Situationen und wissenschaftliche Entdeckungen bemühen solle, auch wenn dies mit einiger Verzögerung geschehe.

Dem Vortrag folgte eine interessante und informative Diskussion zwischen dem Publikum, dem Moderator und dem Referenten über die Vereinbarkeit christlicher Werte mit modernen europäischen Werten. Alle Anwesenden wurden von der Hanbs-Seidel-Stiftung zu einem Empfang eingeladen, um die Diskussion über die angesprochenen Themen fortzusetzen.

Eldaniz GUSSEINOV

Die Andrássy Universität Budapest dankt der Hanns-Seidel-Stiftung für die großzügige Unterstützung
dieser Veranstaltungsreihe. Eine Aufzeichnung der Veranstaltung finden Sie hier

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