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"Die Mitgliedsstaaten müssen sich entschulden, bevor sie durch ihre Schulden entstaatlicht werden"
Bericht über die Vorträge von Prof. Dr. Ulrich Hufeld und Prof. DDr. Michael Potacs

Quo vadis, Unio Europaea? — Um Antworten auf diese Frage zu erörtern folgten die beiden Referenten Prof. Dr. Ulrich Hufeld von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg und Prof. DDr. Michael Potacs von der Wirtschaftsuniversität Wien der Einladung des Donau-Instituts der Andrássy Universität Budapest (AUB) im Rahmen ihrer Veranstaltungsreihe „Desintegrationsprozesse in Europa“ am 27.11.2013 nach Budapest. Beide Vortragende hatten sich vorgenommen, die zentrifugalen Wirkungen der europäischen Staatsschuldenkrise aus einer europarechtlichen Perspektive einzuordnen. Professor Hufeld knüpfte mit seiner These sogleich an die einleitenden Worte von Dr. Attila Vincze an, dass desintegrative Prozesse auch ein Quell neuer Integrationsimpulse sein könnten. Konkret erkannte Professor Hufeld dieses Potenzial in einer „verrechtlichen Verdichtung“ in der Koordinierung der öffentlichen Finanzen der EU-Mitgliedstaaten.

Diese durch die verschiedenen institutionellen Novellierungen bereits erkennbare Verdichtung sei aus zwei Gründen geboten. Zunächst untergrabe eine überbordende Staatsschuld die Souveränität eines Staates, dessen staatstheoretische Räson es sein sollte, seinen Haushalt primär aus steuergespeisten Eigenmitteln zu bestreiten. Exzessive Kreditaufnahmen an Kapitalmärkten sollten daher eine Ausnahme bleiben. Dieser im europäischen Vertragswerk im Geiste anerkannte Grundsatz sei allerdings durch eine butterweiche Formulierung und der jetzigen Schuldenmisere konstituierend zutragenden „Politisierung“ der betreffenden Vertragsbestimmungen jeglicher faktischen Geltung entbunden worden. Aus diesem Verständnis heraus sei es also eine Mär, wenn man den Defizitsündern rückblickend Rechtsbruch vorwerfen würde – Artikel 126 Absatz 6 AEUV ließ die Defizitfeststellung nämlich zu einer binären Frage politischer Natur verkümmern. Das Vertragswerk nun durch völkerrechtliche Abkommen – eine Änderung des supranationalen Primärrechts sei durch die Konsenspflicht bedeutsam schwieriger – wie „Fiskalpakt“, „Six-Pack“ und „Schuldenbremse“ zu flicken, sei, zum anderen, damit eine logische Notwendigkeit. Nur durch ein umfassendes wirtschaftliches „Notstandsrecht“ könnten die Glutnester der Staatsschuldenkrise - Spekulation durch Kapitalmarktakteure und Glaubwürdigkeitsprobleme in der angestrebten Schuldentilgung – erstickt werden.

Eine scharfe Trennlinie müsse aber zu den institutionellen Instrumenten der „finanziellen Nothilfe“ gezogen werden. Diese „dürften nicht zum Dauerzustand werden“, denn der de facto etablierte Leitsatz „Solidarität durch Bonität“ bürde sowohl den Regierungen der Geber- als auch der Nehmerstaaten eine zermürbende politische Last auf. Die Kraft, die Transfers von immensen öffentlichen Steuermitteln bzw. die Infiltration des öffentlichen und privaten Lebens durch die Austeritätsdoktrin vor den eigenen Wählern glaubwürdig zu rechtfertigen, habe ein Verfallsdatum. Umso dringlicher sei es also für die Mitgliedstaaten „sich zu entschulden, bevor sie durch ihre Schulden entstaatlicht würden“. Die Verdichtung der finanzpolitischen Koordination durch „hartes“ Recht sei daher Mittel zum Zweck. Die neu aufbrechende Trennlinie zwischen den dieser Verrechtlichung beitretenden und den völkerrechtlichen Bestimmungen distanziert bleibenden Mitgliedstaaten – sprich zwischen der Eurozone und den Nichtmitgliedern der Währungsunion – würde dadurch relativiert, wenn ein gesundendes und wettbewerbsfähigeres Kerneuropa Anziehungskraft auf die peripheren Mitgliedstaaten ausüben kann, und somit re-integrative Anreize innerhalb der Europäischen Union begründen würde.

Im zweiten Vortrag des Abends griff Professor Potacs den seit dem Ausbruch der Schuldenkrise omnipräsenten Begriff der „Solidarität“ auf. Würde man dem Tenor vieler Politiker und Medien folgen, so könne man den Eindruck gewinnen, dass die derzeit beobachtbare finanzielle Solidarität unter den Mitgliedsstaaten „wesentliches Element der europäischen Integration sei“. Dieser Fehlinterpretation wollte Professor Potacs dann aber mit Hilfe einer „tour d’horizon“ durch die betreffenden Klauseln des europäischen Primärrechts entgegentreten. Klipp und klar sei es, dass die öffentlichen Finanzen eines jeden Mitgliedsstaates eigenverantwortlich zu bestreiten und zu beherrschen seien. Artikel 123 AEUV drücke sich diesbezüglich unmissverständlich aus: ein unmittelbares Beispringen der Europäischen Zentralbank ist schlichtweg verboten. Der Staatengemeinschaft sei es zwar grundsätzlich erlaubt, ihre Finanzen untereinander solidarisch zu stützen, jedoch ließe sich der hierfür maßgebliche Artikel 122 AEUV, der gemeinschaftlichen Beistand nach exogenen Schocks gebietet, kaum auf die faktischen Umstände der Staatsschuldenkrise projizieren. Unbedingt differenziert werden müsse darüber hinaus zwischen Mitgliedern der Euro-Zone und Nicht-Mitgliedern. Die in Artikel 139ff AEUV enthaltenen Bestimmungen zur Regelung von Zahlungsbilanzkrisen – die in der Tat gemeinschaftliche Finanzhilfen ermöglichten – gölten zweifelsfrei für Mitgliedsstaaten außerhalb des Euro-Raumes. Und dieser getrennte Geltungsbereich sei auch unstrittig sinnhaft: hätten sich die Euro-Mitglieder beim Beitritt zur Eurozone nicht bereits zu einer besonders vorausschauenden Haushaltspolitik verpflichtet? Die Bestimmungen in den Artikeln 139ff AEUV machten im Umkehrschluss also deutlich, dass eine uneingeschränkte Eigenverantwortlichkeit der Grundpfeiler der Währungsunion sei, wie es auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in seiner Beurteilung der europäischen Rettungspolitik der Bundesregierung feststellte.

Aus dieser Perspektive müsse der Begriff der „Solidarität“ folglich auch ganz anders interpretiert werden: innereuropäische Solidarität hieße für jeden EU-Mitgliedsstaat zu allererst die Einhaltung seiner Eigenverantwortung in seiner Haushaltspolitik. Ein Missachtung gerade dieser Eigenverantwortung destabilisiere nämlich den Zusammenhalt in der Union, und würde somit gemeinschaftlich gehegte Solidaritätsgedanken erodieren. Aus der Analyse des europäischen Primärrechts ließ sich zusammenfassend also keinerlei Anhaltspunkt für eine alternative Interpretation des Solidaritätsgedanken, als genau diese solidarische Einhaltung einer eigenverantwortlichen und stabilen Haushaltspolitik, ableiten. Versuche man weiterhin, transferorientiertere Auffassungen des Solidaritätsbegriffes, wie zum Beispiel die Idee der „Euro-Bonds“, in der Praxis zu etablieren, hätte dies zwei folgenschwere Effekte. Zum einen würde ein Grundsatzwechsel in der europäischen Gemeinschaftspolitik vollzogen. Zum anderen würden die nationalen Verfassungen der Mitgliedsstaaten durch diesen Paradigmenwechsel erheblich strapaziert werden. Unvermeidliches Produkt dieses Prozesses könnten dann genau die desintegrativen Fliehkräfte sein, die die Europäer mit ihrer aktuellen Politik eigentlich einzudämmen versuchen.

Text: Torben Otte

Fotos: Szecsődi Balázs

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