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Die ewige Wiederkehr des Gleichen? Erneute Zwei-Drittel-Mehrheit für Fidesz-KDNP
Bei den Parlamentswahlen am 3. April 2022 hat Fidesz-KDNP zum vierten Mal in Folge eine Zweidrittelmehrheit errungen. Die Meinungsforschungsinstitute waren durchgängig von einem knapperen Sieg der Regierungsparteien ausgegangen.

Nachdem die Kuria am 16. April 2022 den Einspruch von Mi Hazánk gegen das von der Nationalen Wahlkommission bekannt gegebene Wahlergebnis zurückgewiesen hat, steht das amtliche Endergebnis der Parlamentswahlen  vom 3. April fest.  Wiederum hat Fidesz-KDNP bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von 69,59 % einen überwältigenden Wahlsieg eingefahren. Im neuen Parlament verfügt sie über 135 der 199 Sitze, zwei mehr als bei den letzten Parlamentswahlen von 2018. Obwohl fast die gesamte Opposition mit einer gemeinsamen Landesliste (Gemeinsam für Ungarn - “Egységben Magyarországért”) in die Wahlen gezogen und in allen Wahlkreisen mit einer - gemeinsamen - Kandidatur angetreten ist, hat sie eine schwere Niederlage erlitten. Die sechs Parteien hatten bei der letzten Wahl zusammen noch 65 Sitze errungen, dieses Mal kamen sie jedoch nur auf 57 Sitze. Neben den beiden großen Blöcken ist es auch der nach den Parlamentswahlen 2018 als Abspaltung von Jobbik entstandenen rechtsradikalen Partei Mi Hazánk (“Unsere Heimat”) erstmals gelungen, mit sechs Abgeordneten ins Parlament einzuziehen. Sie konnte 5,88 % der Stimmen auf sich vereinigen. Schließlich erreichte auch der Vertreter der deutschen Minderheit erneut die für einen Sitz im Parlament notwendigen Stimmen.

Fidesz-KDNP konnte bei den Listenstimmen ihren Anteil von 49,27 % auf 54,13 % steigern, allerdings verlor das Parteienbündnis vier Einerwahlkreise und verfügt noch über 87 Direktmandate. Die vereinigte Opposition hat (wenn man die Stärke der einzelnen Bündnispartner im Jahr 2018 zugrunde legt) einen wahren Einbruch bei den Listenstimmen erlitten und zwölf Prozentpunkte verloren. Sie kommt nur noch auf 34,44%. Einzig bei den Direktkandidaten in den Einerwahlkreisen konnte sie sich von 15 auf 19 steigern. In absoluten Zahlen hatten 2018 2.824.551 BürgerInnen ihre Stimmen für Fidesz-KDNP abgeben, 2022 konnte sich das Parteienbündnis um mehr als 230.000 auf 3.060.706 Stimmen steigern. Demgegenüber hat die vereinigte Opposition mehr als 700.000 Listenstimmen verloren und kommt noch auf 1.947.331 Stimmen. Das Ergebnis ist noch desaströser als es auf den ersten Blick erscheint. Denn die vereinigte Opposition konnte zwar vier zusätzliche Einerwahlkreise gewinnen, aber die Regierungparteien  haben in 102 Einerwahlkreisen ihren Stimmenanteil steigern können. Die Opposition verfügt nur in der Hauptstadt, wo sie 17 von 18 Einerwahlkreisen gewinnen konnte, sowie in den Großstädten Szeged und Pécs über eine Mehrheit. Fidesz-KDNP besitzt dagegen überall eine starke Basis und dominiert die ländlichen Gebiete.

Allerdings kann festgehalten werden, dass in acht Einerwahlkreisen die KandidatInnen der vereinten Opposition nur knapp gegen die von Fidesz verloren haben. In diesen Wahlkreisen hat sich gezeigt, dass das Festhalten der Partei des zweischwänzigen Hundes (Magyar Kétfarkú Kutyapárt - MKKP) an eigenen KandidatInnen den Sieg der Fidesz-KDNP erst ermöglicht hat. Hätte die Partei des Zweischwänzigen Hundes auf eine Kandidatur verzichtet, hätte zumindest die Zweidrittelmehrheit von Fidesz-KDNP verhindert werden können.

Wie bei den Wahlen 2014 und 2018 sind die Briefwahlstimmen (268.766) auch dieses Mal mit weit über 90 Prozent Fidesz-KDNP zugutegekommen und haben wiederum zwei Mandate sichern können. Diejenigen, die ihre Stimme in  Botschaften und Konsulaten  oder nicht an ihrem Wohnort (Umgemeldete) abgegeben haben (206.980), haben dagegen tendenziell die Oppositionsparteien gestärkt.

Der mit dem neuen Wahlgesetz von 2011 eingeführte Kompensationsmechanismus (sowohl Verlierer als auch Gewinnerkompensation) hat wie schon 2014 und 2018 Fidesz-KDNP zusätzliche Mandate gebracht. Ohne die fünf durch die Gewinnerkompensationsstimmen  (Töredékszavazatok) erzielten Mandate hätte Fidesz-KDNP (wie auch 2014 und 2018) keine Zweidrittelmehrheit erreicht. Ohne die Briefwahlstimmen und die Gewinnerkompensation hätte Fidesz-KDNP anstelle von 48 sogar nur 41 Listennmandate bekommen. Die vereinte Opposition hätte dagegen 43 statt 38 und Mi Hazánk 8 statt 6 Mandate erzielt.

Vor dem Hintergrund dieser Tatsache lassen sich die großen Differenzen zwischen den Wahlprognosen und dem Wahlergebnis schon eher erklären. Denn die Effekte der Kompensationsstimmen sind im Vorhinein kaum absehbar. Die letzten Prognosen vor den Wahlen hatten Fidesz-KDNP durchgängig drei bis sechs Prozentpunkt schwächer eingeschätzt, die Liste der vereinten Opposition dagegen zwischen fünf und zwölf Prozentpunkten stärker. Auch das Resultät für Mi Hazánk wurde zwischen zwei und vier Prozentpunkten unterschätzt. Der in dieser Höhe nicht erwartete Sieg von Fidesz-KDNP lässt sich auch auf den nicht vorhersehbaren Effekt des Krieges in der Ukraine zurückführen. Hat doch die erfolgreiche Reaktion der Regierungskommunikation auf den Krieg in der Ukraine es Viktor Orbán ermöglicht, sich als einzigen Garanten für Frieden und Sicherheit und somit auch als Bewahrer des Wohlstands Ungarns zu präsentieren und damit verunsicherte und unentschiedene WählerInnen für sich zu gewinnen.

Hinzu kommt, dass die Regierungsparteien in der Wahlkampagne dominiert hatten, da sie über unverhältnismäßig mehr Ressourcen als die Opposition verfügten  (Blogbeitrag vom 01.04.2022). Überdies hat die Regierung Wahlgeschenke in großem Maßstab verteilt: Unter anderem wurde eine 13. Monatsrente ausbezahlt und junge Erwachsene und Familien wurden steuerlich entlastet. Fidesz-KDNP hat wie bei den drei vorherigen Wahlen auf die Ausarbeitung eines Wahlprogramms verzichtet und die Kampagne ganz auf die Person von Viktor Orbán zugeschnitten. Er wurde als erfahrener Staatsmann, der schon manche Krise gemeistert habe präsentiert. Die Kampagne der Regierungsseite appellierte an den wirtschaftlichen Eigennutz der BürgerInnen. Sie betonte die positive Entwicklung der Wirtschaft vor der COVID-19-Pandemie und wies darauf hin, dass es gelungen sei, die ungarische Wirtschaft erfolgreich durch die Pandemie zu manövrieren. Besonders betont wurden die Maßnahmen, die der Erhaltung der Kaufkraft der Bevölkerung dienten, wie die Senkung der Nebenkosten, die Benzinpreisbegrenzung und die Begrenzung der Preise einiger (Grund-)Nahrungsmittel. Damit wurde Orbán zu einer lichten Führungsgestalt stilisiert, die Ungarn den Weg in eine erfolgreiche Zukunft weist. In scharfem Gegensatz dazu wurde der gemeinsame Ministerpräsidentenkandidat der vereinigten Opposition, Péter Márky-Zay, als Marionette von Ferenc Gyurcsány gezeichnet. Letzterer stand für eine Rückkehr in eine finstere und erfolglose Vergangenheit.

Die vereinigte Opposition hatte zwar unter der Leitung von Márky-Zay ein gemeinsames Regierungsprogramm erarbeitet, welches sich auf das Ergebnis eines öffentlichen Konsultationsprozesses stützte. Allerdings konnte die vereinigte Opposition das so erarbeitete gemeinsame Programm “Nur nach oben! - Das Programm des aufstrebenden Ungarns” (Csak felfelé! - Az emelkedő Magyarország programja) erst am 10. März 2022, drei Wochen vor dem Wahltermin, vorstellen. Das Programm war schon bei seiner Vorstellung obsolet, da der Krieg in der Ukraine zu diesem Zeitpunkt bereits die Debatte beherrschte. Die Kernbotschaft des Programms lautete, dass es bei der Wahl um die Grundsatzentscheidung “Orbán oder Europa?” geht. Zentrales Ziel war die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Damit sollte ein “europäisches Ungarn” verwirklicht werden, das von allen als gemeinsame Heimat empfunden werden kann. Es kann festgehalten werden,  dass es der vereinigten Opposition nicht gelungen war, im Wahlkampf ihre Themen zu setzen. Weder die grassierende Korruption noch die hohe Zahl der COVID-Toten spielten im öffentlichen Diskurs eine Rolle. Auch vor dem Hintergrund der russischen Aggression gegen die Ukraine war die vereinigte Opposition nicht in der Lage, sich als europäische Alternative gegenüber Orbáns Narrativ zu positionieren.

Als nachteilig erwies sich auch die Änderung des Wahlgesetzes vom Dezember 2020, durch die diejenigen Parteien der Opposition, die kooperieren wollten,  gezwungen wurden, mit einer gemeinsamen Liste anzutreten. Dies untergrub angesichts der Heterogenität ihrer Positionen ihre inhaltliche Glaubwürdigkeit und Kohärenz. Neben persönlichen Animositäten schwächte auch das schlechte Management der Oppositionskampagne, wie etwa der Verzicht auf eine einheitliche Kampagnenorganisation, die Schlagkraft der vereinigten Opposition. Auch die Wahl des Spitzenkandidaten erwies sich im Nachhinein als problematisch. Seine teilweisen erratischen Aussagen boten der Gegenseite zahlreiche Angriffspunkte. Überdies verfügte Márki-Zay als Außenseiter über keine eigene Parteiorganisation und musste quasi als Bittsteller gegenüber den Parteipräsidenten der vereinigten Opposition antreten. Anstelle der Vermittlung einer klaren politischen Botschaft und der Kritik an der Regierung wurde viel Zeit mit internen Diskussionen und Abstimmungsprozessen vertan.

Lange Zeit war es unklar, ob neben den beiden großen Blöcken auch noch andere Parteien den Sprung ins Parlament schaffen würden. Schließlich gelang es Mi Hazánk die Fünfprozenthürde zu überspringen. Die Partei präsentierte sich als radikale Alternative zu Fidesz und  zielte darauf, den aufgrund der Teilnahme Jobbiks an der Plattform der vereinigten Opposition entfremdeten ehemaligen Jobbik-WählerInnen ein politisches Angebot zu machen. Die Partei führte eine fremdenfeindliche, radikale Kampagne. Sie versprach das Recht auf Asyl abzuschaffen und die “COVID-Diktatur” zu beenden. Mit diesem Angebot ist es Mi Hazánk wohl gelungen, genügend ehemalige Jobbik-WählerInnen für sich zu gewinnen. Die Partei hat nach den Wahlen angekündigt, dass sie aller Voraussicht nach in vielen identitätspolitischen Fragen auf der Seite der Regierungsparteien stehen wird.

Zeitgleich mit den Wahlen hat die Regierung auch ein Plebiszit lanciert. In dieser Volksabstimmung ging es darum, ob die die sexuelle Aufklärung an Schulen eingeschränkt sowie die „Popularisierung“ von Geschlechtsangleichenden Eingriffen verboten werden sollte. Außerdem sollte verboten werden, Kindern geschlechtsangleichende Therapien anzubieten. Schließlich sollte es auch nicht mehr ohne Einschränkung möglich sein, Kindern solche Medieninhalte mit sexuellen Inhalten zugänglich zu machen, die deren Entwicklung beeinflussen könnten. Die Referendumsfragen entbehrten weitestgehend der praktischen Relevanz, sind doch die monierten Praktiken wegen des Kinderschutzgesetzes verboten. Allerdings zeigt sich an diesem Beispiel sehr gut, dass die Regierung das Instrument der Volksabstimmung instrumentalisiert hat. Das Thema der Volksabstimmung ist symbolisch geladen und stellt einen „Trigger“ im identitätspolitischen Konflikt in Ungarn dar. Es ist geeignet, die Bevölkerung zu polarisieren und die Anhängerschaft der Regierungsparteien zu mobilisieren. Die Kampagne der Opposition und verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen, ungültig abzustimmen, war erfolgreich und das Referendum ist am Teilnahmequorum gescheitert (die Teilnahmequote lag bei allen Fragen um 47 %). Dennoch war aus Sicht der Regierungsparteien die Mobilisierungsstrategie erfolgreich, haben doch jeweils mehr als 3,6 Millionen WählerInnen im Sinne der Regierungsparteien abgestimmt. Diese Zahl ist höher als die kombinierten Listenstimmen von Fidesz-KDNP und Mi Hazánk. Auf dieses Resultat kann Fidesz-KDNP auch in zukünftigen Auseinandersetzungen mit der EU zurückgreifen, um ihre Standpunkt in identitätspolitischen Fragen mit Verweis auf ihre große Unterstützung durch das ungarische Volk zu legitimieren.

Die OSZE hat in ihrem Wahlbericht festgehalten, dass die Kräfteverhältnisse nicht ausgewogen waren, und dass der Wahlkampf negativ geführt wurde. Der Mangel an inhaltlichen Debatten habe die Wahlentscheidung der WählerInnen behindert. Obwohl die Wahlen ordnungsgemäß durchgeführt wurden und der rechtliche Rahmen für demokratische Wahlen vorhanden war, waren die Bedingungen nicht fair, wurde doch der Prozess durch die Voreingenommenheit der Medien und die undurchsichtige Wahlkampffinanzierung unterminiert. Die Vermischung von Staat und Partei führte dazu, dass die Informationstätigkeit der Regierung weitgehend in den Dienst des Wahlkampfs von Fidesz-KDNP gestellt wurde. Überdies wurde in mehreren Fällen die internationalen Standards für demokratische Wahlen nicht eingehalten, und das Wahlgeheimnis war häufig gefährdet, zum Beispiel durch überfüllte Wahllokale

Viktor Orbán hat in seiner Siegesrede am Wahlabend von einem „gewaltigen Sieg“ gesprochen, der so groß sei, dass man ihn vom Mond und ganz sicher von Brüssel aus sehen könnte. Der Sieg sei auch deshalb so groß, weil man gegen die größte Übermacht hätte ankämpfen müssen: “Die Linke zu Hause, die internationale Linke rundherum, die Bürokraten in Brüssel, das ganze Geld und die Organisationen des Soros-Imperiums, die internationalen Mainstream-Medien und am Ende sogar der ukrainische Präsident. Wir haben noch nie so viele Gegner auf einmal gehabt. Aber egal, wie viel Geld sie haben und wie sehr wir in der Unterzahl sind, wenn wir zusammenarbeiten, können wir nicht aufgehalten werden.”  Zum Abschluss sagte er: Wir haben “nicht zugelassen [...], dass die gescheiterte Vergangenheit zurückkehrt, wir haben Ungarns Unabhängigkeit und Freiheit verteidigt, wir haben Ungarns Frieden und Sicherheit verteidigt, und obwohl wir die Ergebnisse noch nicht kennen, hoffe ich, dass wir unsere Kinder und unsere Familien geschützt haben.” Im Hinblick auf die Bedeutung dieses Wahlsiegs führte er weiter aus: “Die ganze Welt hat heute Abend hier in Budapest gesehen, dass die christdemokratische Politik, die konservative, bürgerliche Politik und die patriotische Politik gewonnen haben. Und wir sagen Europa, dass dies nicht die Vergangenheit ist, sondern die Zukunft, dass dies unsere gemeinsame europäische Zukunft sein wird. Die ganze Welt hat gesehen, dass die Ungarn ihr Land lieben, und wir, die wir heute gewonnen haben, versprechen, dass Ungarn für uns immer an erster Stelle stehen wird.”

Auf den ersten Blick schien es tatsächlich so, als ob der Wahlsieg Orbán nicht nur innenpolitisch, sondern auch international und in der EU stärken würde. Allerdings sollte sich bald zeigen, dass diese Annahme sich als unzutreffend erwies. Aufgrund der ambivalenten Position Orbáns zu den Maßnahmen von EU und NATO gegen Russland und zur Unterstützung der Ukraine,  isolierte sich die ungarische Regierung zunehmend. Selbst innerhalb der Visegrád 4 rückten die Partner von Ungarn ab und übten deutliche Kritik. Mit der Bestätigung Emmanuel Macrons in der Präsidentenwahl in Frankreich am 24. April 2022 zerstob die Hoffnung Orbáns auf eine Stärkung der rechtsnationalen Kräfte in der EU. Zudem verlor er auch in Slowenien einen wichtigen Verbündeten, denn Ministerpräsident  Janez Janša wurde am gleichen Tag abgewählt.

Schließlich erhöhte auch die Europäische Kommission den Druck auf Ungarn. Bereits drei Tage nach der Wahl kündigte die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, dass der neue Rechtsstaatskonditionalitätsmechanismus gegen Ungarn in Gang gesetzt wird. Konkret werden Ungarn insbesondere systembedingte Mängel und Schwächen im öffentlichen Auftragswesen, Anomalien beim Verkauf von Agrarland, unzureichendes Vorgehen gegen Korruption sowie unzureichende Zusammenarbeit mit OLAF vorgeworfen. Das entsprechende Verfahren wurde am 27. April 2022 von der Kommission eingeleitet.

Obwohl Fidesz-KDNP die neue Legislaturperiode aus einer Position der Stärke in Angriff nehmen kann, sieht sich die künftige Regierung mit großen Herausforderungen konfrontiert. Haben sich doch aufgrund des Krieges in der Ukraine die weltwirtschaftlichen Aussichten eingetrübt und ein Ende des inflationären Zyklus ist noch nicht absehbar. Dies stellt die materiellen Grundlagen der unorthodoxen Wirtschaftspolitik Orbáns sowie das Versprechen eines steigenden Lebensstandards für alle UngarInnen zusehends in Frage. Es lässt sich heute nicht absehen, wie die Wahlgeschenke und die vor der Wahl verhängten Preisstopps sowie die 2014 eingeführte Senkung der Nebenkosten für Privathaushalte auf Dauer aufrechterhalten werden können. Verschärft wird diese Probleme durch das Ausbleiben der Mittel aus dem EU COVID Aufbau- und Resilienzfonds sowie der möglichen Zurückhaltung weiterer EU-Mittel aufgrund der im Rahmen des Rechtsstaatskonditionalitätsmechanismus drohenden Sanktionen. Orbán wird wohl aller Voraussicht nach versuchen, Austeritätsmaßnahmen zu vermeiden, weshalb er bereits angekündigt hat, dass stattdessen die Steuern für multinationale Unternehmen steigen könnten.

Innenpolitisch ist die dominierende Position von Fidesz-KDNP unangefochten. Die Parteien der vereinigten Opposition sind noch damit beschäftigt, die Ursachen der Wahlniederlage aufzuarbeiten und sich neu zu organisieren und die parlamentarische Arbeit vorzubereiten. Eine erste Herausforderung war die Verteilung der durch den Verzicht der SpitzenkandidatInnen Péter Márki-Zay, Klára Dobrev (DK), Gergely Karácsony (Párbeszéd) frei gewordenen Mandate. Insbesondere stellte sich die Frage, ob DK sich tatsächlich an das vor der Wahl gegebene Versprechen halten würde, ein Mandat an LMP abzutreten, falls dies für die Bildung einer eigenen Fraktion notwendig sein sollte. Dies war schließlich der Fall, so dass die vereinigte Opposition mit sechs Fraktionen im neuen Parlament vertreten sein wird. DK konnte die Zahl ihrer Mandate auf 15 fast verdoppeln und stellt die größte oppositionelle Fraktion. Die erstmals im Parlament vertretene Momentum-Bewegung konnte sich zunächst elf Mandate sichern, allerdings wurde der unabhängige Abgeordnete Ákos Hadházy entgegen der ursprünglichen Planung nicht in die Fraktion aufgenommen und wird als Unabhängiger im Parlament sitzen. Jobbik ist ebenso wie die MSZP mit 10 Mandaten vertreten. Párbeszéd verfügt über sieben und LMP über fünf Abgeordnete. Die nicht zum Oppositionsbündnis gehörende rechtsradikale Partei Mi Hazánk nimmt schließlich mit sechs Mandaten im Parlament Einsitz.

Vor der Übernahme der Mandate entspann sich innerhalb der vereinigten Opposition eine Diskussion darüber, wie sie ihren Protest gegen die als unfair empfundene Wahl am besten zum Ausdruck bringen kann. Die Vorschläge reichten vom Verzicht auf die Mandate, um nicht die unfairen Wahlen zu legitimieren, bis zu symbolischen Gesten. So wurde etwa erwogen, die Mandate erst verspätet anzunehmen. Allerdings wurden diese Überlegungen durch Fidesz ausgehebelt, da der Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei, Máté Kocsis, drohte, diejenigen Kandidaten der Oppositionsparteien von der Verteilung der Ausschussvorsitze und stellvertretenden Vorsitze auszuschließen, die den Amtseid nicht abgelegt haben. Damit hat sich die Boykottdrohung von Teilen der vereinten Opposition erübrigt. Wieder einmal ist es Fidesz-KDNP gelungen, sich in einem Machtkampf durchzusetzen.

Der erneute Wahlsieg von Fidesz-KDNP hat die bestehenden Machtverhältnisse zementiert und bietet Viktor Orbán die Gelegenheit, den Umbau des Landes in seinem Sinne weiter voranzutreiben. Eine erste Verfassungsänderung zur Ausweitung der Gründe für die Ausrufung  des Ausnahmezustands wurde bereits angekündigt. Die ersten Maßnahmen der Regierungsparteien haben außerdem gezeigt, dass die konfrontative Politik weiter fortgesetzt wird und keine Gesten Richtung Opposition zu erwarten sind. Aufgrund der jüngsten Entwicklungen im internationalen und europäischen Umfeld wird es trotz des innenpolitischen Triumphs für Orbáns schwer werden, seine außen- und europapolitischen Ambitionen zu verwirklichen. 

 

Ellen BOS und Zoltán Tibor PÁLLINGER

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