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"Der gute Politiker"
Internationale Konferenz an der AUB.

Sie gelten als Symbolfiguren für den gewaltfreien Kampf. Sie sind beharrliche Visionäre und charismatische Führungspersönlichkeiten. Als „Kapitäne des Systemwechsels“ manövrieren Staatsmänner ganze Länder durch unsichere Zeiten der Transformation. Ganz sicher nicht, um Jahre später zum Thema des Workshops am 17. Dezember 2015 in Budapest zu werden. Und dennoch stellen sich genau hier Wissenschaftler unterschiedlicher Herkunft die Frage, was jene Politiker auszeichnet. Ein Fazit vorab: Der „gute Politiker“ scheint (nicht nur) in Ostmitteleuropa eine seltene wie umstrittene Person zu sein. Viel einfacher gestaltet sich hier die Suche nach Worst-Practice-Beispielen.

Es stellt sich die grundsätzliche Frage: Was verstehen wir unter „gut“, was unter „schlecht“, und wo setzen wir die Trennlinie an? Selbst wenn wir uns darauf einlassen, selbst wenn wir in den Spiegel der Moral blicken und uns ein Bild vom „guten Politiker“ machen - Welches Gesicht blickt uns dann an? Welche Kennzeichen machen also einen guten Staatsmann aus? Theoretiker finden Antworten bei Max Weber und seinem bis heute zeitlosen Vortrag zu „Politik als Beruf“ (1919). Während sich der Beamte hinter seiner Pflichterfüllung verstecken möge, gehöre es nach Weber zur Ehre des politischen Führers „dagegen gerade die ausschließliche Verantwortung für das, was er tut“ nicht abzulehnen oder abzuwälzen. Leidenschaft, verbunden mit Dienst an der Sache, Augenmaß und Verantwortungsgefühl zeichne den guten Führer aus. „Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“, lautet eine zentrale Aussage Webers.

Platons Politikos - Ein Modell für moderne Politiker?

Prof. Dr. Hendrik Hansen (AUB) stieg mit der Frage ein, ob wir überhaupt gute Politiker brauchen? Gerade die Entwicklung der Globalisierung in den letzten Jahren zeige, dass es bisher nicht zu einem Ende der Geschichte gekommen sei. Anstelle eines harmonischen Zustandes, wie Fukuyama in seiner These vom der Ende der Geschichte vertreten hat, seien zahlreiche neue Konflikte und Bedrohungen aufgetreten. Die Bewältigung dieser verlange nach politischer Führung und werte somit die Frage nach dem guten Politiker auf.

Was sind die Maßstäbe und Anforderungen an die Politiker? Hobbes beschreibt die internationale Politik als Anarchie, in der keine Moral herrscht. Gleichzeitig gibt es laut seiner Theorei eine globale Konkurrenz auf der Welt. Politiker müssen daher die eigene Nation stärken und in den Vordergrund stellen. Dem steht die Ansicht gegenüber, dass gute Politiker in kooperativer Weise bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen mitwirken sollten. Habermas weist zudem darauf hin, dass das primäre Feld der Freiheit die Politik und nicht die Wirtschaft sein sollte. Märkte würden Wohlfahrt nur für wenige schaffen, daher soll die Domestizierung des Weltmarktes eine der Hauptaufgaben des guten Politikers sein. Nach der realistischen Auffassung sind Konflikte unvermeidbar und Konflikte sind das Schicksal der Menschheit. Dagegen plädiert der Sozialliberalismus für die Lösung der Konflikte durch die Schaffung internationaler Institutionen.

Um diese widersprüchlichen Anforderungen unter einen Hut zu bringen, griff Hansen auf einen Klassiker der Politikwissenschaft zurück: Platon entwirft im Politikos das Bild des guten Politikers als Hüter der Herde. Dieses Bild sei aber unzulänglich: Denn der Menschen unterscheiden sich von den anderen „Tieren“. Der gute Politiker müsse unterschiedliche Fähigkeiten unter einen Hut bringen, deshalb sei seine Kunst mit der Tätigkeit des Webers gleichzusetzen, der aus unterschiedliche Garnen einen harmonischen Stoff weben muss.

Politisches Führungspersonal: Werteliten oder Funktionseliten

In jeder politischen Ordnung stellt sich die Frage, so Dr. Zoltán Tibor Pállinger, wer herrschen soll. Selbstverständlich wollen wir nur von den Besten regiert werden. Dies komme im griechischen Ausdruck Aristokratie („Herrschaft der Besten“) zum Ausdruck. Mit der Französischen Revolution wurde die Funktion der traditionellen Aristokratie in Frage gestellt. Für Saint-Simon bilde das Problem, wer in der neuen, post-revolutionären Gesellschaft regieren soll, den Ausgangspunkt für seine Überlegungen. Er beantwortet diese Frage in seinem Werk „L’Organisateur“ von 1819 mit einem Gleichnis: Würde Frankreich mit einem Schlag die 3000 ersten Mitglieder der Funktionselite (Wissenschaftler, Kaufleute, Handwerker, Künstler etc.) verlieren, würde das Land in der Entwicklung um 30 Jahre zurückgeworfen. Würden dagegen 30000 Mitglieder der traditionellen Elite sterben, würde faktisch nichts geschehen. Seine Konklusion: Die Funktionselite, die sog. „classe industrielle“ sollte regieren.

Auf dieses Gleichnis geht die Unterscheidung von Funktions- und Werteliten zurück. Heute gehen wir davon aus, dass Eliten eine Doppelfunktion haben: gesellschaftliche Interessen vertreten und den gesellschaftliche Konsens herstellen. Für die Bewältigung dieser Aufgabe sind sowohl Wert- als auch Funktionseliten notwendig. Die Pointe Saint-Simons war, dass für ihn die „classe industrielle“ sowohl eine Wert- als auch Funktionselite sei.

Der gute Politiker aus Sicht der Wirtschaftswissenschaft

Prof. Dr. Siegfried F. Franke (AUB) ging der Frage nach den Grenzen der Transparenz nach. Obwohl unter den Bedingungen der demokratischen Herrschaft eine weitgehende Transparenz notwendig sei, müssten die Persönlichkeitsrechte der Politiker und Politikerinnen beachtet werden. Zudem würden politische Entscheidungsprozesse auch Vertraulichkeit bedingen. Politiker würden ihre Handlungen durch Narrative legitimieren und damit in einen größeren Kontext stellen. Allerdings bestehe dabei die Gefahr, dass Narrative durch politische Realitäten falsifiziert werden können.

Prof. Dr. Stefan Okruch (AUB) verglich gute Politiker mit politischen Unternehmer und Beratern. Das heißt, dass Politiker auch ökonomisch denken und den Staat wie ein Unternehmer führen müssen. Dabei stelle der Systemwettbewerb sicher, dass kein politisches „Marktversagen“ auftreten würde und Lernprozesse zu guten Resultaten führen würden.

Personalisierung von Politik

Dr. Wilfried Marxer (Lichtenstein-Institut) untersuche die Personalisierung der Politik am Beispiel des Fürstentums Lichtenstein. Das politische System dieses Landes kombiniert repräsentative und direktdemokratische Elemente mit einer starken Stellung der Monarchie. Im „demokratischen Bereich“ bei den Landtagswahlen sei eine Personalisierung nicht zu übersehen (so hätten jeweils die Spitzenkandidaten der Parteien, die später die Wahlen gewonnen haben, die Umfragen angeführt). Demgegenüber kommt der Krone auch eine wichtige Funktion zu, aber die Einschätzung des Monarchen sei unabhängig von seinem Politikstil und werde eher durch die ihm zugeschriebenen Rollenerwartungen bestimmt.

Der informierte Wähler – Mehr Transparenz durch Online-Wahlhilfen

Online-Wahlhilfen sind seit einigen Jahren fester Bestandteil bei westeuropäischen Wahlen. Melani Barlai (AUB) wies aber darauf hin, dass solche Tools im osteuropäischen Kontext Neuland darstellen und dementsprechend nicht so intensiv genutzt würden. Barlai stellte  während ihres Vortrags die an der AUB für die ungarischen Wahlen 2014 Online-Wahlhilfe „Vokskabin“ vor. Da Online-Wahlhilfen in Ungarn und Osteuropa eine neue Technologie darstellen würden, würden sie eher das junge Publikum ansprechen. Allerdings würden Statistiken anderer Länder zeigen, dass das nicht zwangsläufig so sein muss.

Systeme der Macht

Doch seien wir einmal ehrlich: „Der gute Politiker“? Dieser Titel allein ist provokativ. Und das auf mehreren Ebenen: Kein Gänsefüßchen kann das ändern. Die Rolle politisch aktiver Frauen wurde von den ReferentInnen wenig thematiesiert. Gab und gibt es denn tatsächlich keine Politikerin, die den Titel der „Guten“ zumindest im wissenschaftlichen Diskurs tragen dürfte? Madeleine Albright, Angela Merkel, oder gar Margaret Thatcher? Einzig Prof. Dr. Sigmar Schmidt von der Universität Koblenz-Landau ging auf eine Frau näher ein: Ellen Johnson Sirleaf, Präsidentin Liberias und pazifistische Visionärin. Schmidt zeigte einige wichtige zentrale Motive einiger süd- und zentralafrikanischer Staatsoberhäupter auf: allen voran den Personalismus als zentrales Kennzeichen afrikanischen Leaderships.  Diese Staatsmänner würden sich auf Klientelismus und Korruption, sowie auf Repression und Manipulation stützen. Bedingt durch eine vorkapitalistische Prägung entwickle sich der Personalismus mittels traditioneller Legitimationen. Schwache Staatlichkeit, Patronage sowie die Instrumentalisierung des Chaos würden zudem zur Machtsicherung jener Politikertypen führen, die weit entfernt vom Ideal des „guten Politikers“ regieren.

Der Visionär im Schattenstaat

Als deutscher Diplomat suchte Dr. Thomas Schmitt (AUB) den „guten Politiker“ nicht in den Fachbüchern, sondern blickt in die jüngste Vergangenheit, zuerst zum „Gandhi des Balkans“: Ibrahim Rugova. Schmitt sieht in ihm einen „visionären Politiker“. Als pazifistischer Gelehrter wurde er zum „Vater der kosovarischen Nation“. Seine Vision, die Unabhängigkeit des Kosovo gewaltlos zu erreichen, habe er ebenso beharrlich wie kompromisslos umgesetzt. Als Vorsitzender der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) baute Rugova einen „Schattenstaat“ im Kosovo auf. Trotz Rückschlägen, Vorwürfen der Passivität und zu starker Kompromissbereitschaft, erreichte Rugova schließlich sein Ziel und wurde zum dauerhaften Symbol des nationalen Widerstands der Kosovo-Albaner. Das Beispiel Rugova zeige auch, dass „Visionäre zwar oft in Zeiten der Katastrophe brillieren, während sie an den kleinteiligen Problemen des Alltags danach oft scheitern“, so Schmitt. Als weiteres Beispiel für den Typus des „visionären Politikers“ ging Schmitt auf den ersten Präsidenten des unabhängigen Bosnien-Herzegowina, Alija Izetbegović, ein – auch er ein „visionärer Politiker“ in Zeiten extremer Krise, der sich bei der Regierungsarbeit im anschließenden Alltag schwer tat. Spitzenpolitiker im Deutschland von heute seien nicht umsonst sehr zurückhaltend, wenn es darum gehe, den Begriff der Vision für ihre politische Alltagsarbeit zu verwenden. In konsolidierten Ländern seien eben andere Führungsqualitäten gefragt als in Ländern während der Transformationsphase.

Sonderrollen in Ostmitteleuropa

An der Spitze der Transformationsländer der 90er Jahre sah Prof. Dr. Ellen Bos (AUB) „Kapitäne des Systemwechsels“. Ihrer Ansicht nach sei die Rolle der Präsidenten in vielen ostmitteleuropäischen Ländern zentral. Ebenso wie die Diskussionen um deren Bestellung und Ausstattung mit Kompetenzen. Hängt damit die Entwicklung eines Staats hin zu einer funktionierenden Demokratie allein von der Persönlichkeit eines Staatspräsidenten ab? Eines sei klar:  In Phasen der Instabilität öffne sich ein Land zunehmend für den Einfluss eines einzelnen Machthabers. „Unsicherheit bietet mehr Handlungsspielraum und Einfluss bei der Etablierung informeller Verhaltensmuster“, so Bos. Dennoch bedarf es einer Reihe von Faktoren, damit eine Demokratie entstehen kann: Allen voran sozio-ökonomische Entwicklungen eines Landes, die Frage der Pfadabhängigkeit und der Geschichtsaufarbeitung, ebenso wie die Beschaffenheit der Eliten. Nicht zuletzt hätte aber die Vergangenheit gezeigt, dass es „in Phasen des Systemwechsels“ maßgeblich auf Führungspersönlichkeiten ankomme.

Weiße Westen und wohlüberlegte Worte

Mit diesem Wissen stelle man sich vor: einen runden Tisch mit Politikern unterschiedlicher Couleur, und zwischen ihnen dominiert Vertrauen, Respekt und Fairness. Was dem routinierten Politikbeobachter eher schmunzeln lassen mag, scheint in Polen und Tschechien tatsächlich Realität gewesen zu sein. Zumindest für kurze Zeit. Die Schlüsselpersonen der damaligen Runden-Tisch-Gespräche hätten sich nach Ansicht Prof. Dr. Helmut Fehrs (AUB) ganz so verhalten. „Weil diese Personen sich gegenseitig als glaubwürdig erachteten, konnte es zur Übereinkunft kommen“, so Fehr. Sie wären damit als Brückenbauer in die Geschichte der Wende eingegangen und hätten die Geburt der neuen unabhängigen Staaten mitgeprägt. Die „guten Politiker“ wären hier nicht Reformkommunisten gewesen, sondern Pragmatiker, mit einer ideologie-freieren Sprache. „Ihre hohe Bereitschaft zur inhaltlichen Zusammenarbeit war zentral“, so Fehr. Politische Akteure mit hoher Legitimität seitens der Bevölkerung, einem gelebten Öffentlichkeitsbezug und frei von Korruptionsvorwürfen – Das mache den Unterschied aus! Spätere politische Akteure wären von einer Kultur des Aushandelns zu einer „Hasskultur“ zurückgekehrt und hätten damit die Errungenschaften der Runden-Tisch-Gespräche zerstört. 

Ungarischer Hürdenlauf gescheitert?

Harte Kritik an der politischen Elite Ungarns seit der Wende kam von Dr. Attila Tibor Nagy, Politologe am Budapester Méltányosság-Institut. Er zeigt sich besonders von den bisherigen Ministerpräsidenten enttäuscht. „Alle sind gescheitert aus Ungarn ein entwickeltes Land zu machen“. Die Gründe sieht Nagy zum einen in einer fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik, zum anderen an einer mangelnden Erweiterung eines steuerkräftigen Bürgertums. Große Hindernisse, wie die enormen Staatsschulden ebenso wie die Abwanderungswelle von bis zu 400.000 Ungarn wären nicht überwunden worden. Ebenso kritisiert Nagy die in seinen Augen „schlechte Mentalität der Ungarn“, die sich darin äußere, dass „ungarische Gegner nie gelernt haben, sich gegenseitig zu respektieren“. „Unter diesen Hindernissen ist es fast unmöglich zu regieren“ – Dies hätten die letzten 24 Jahre bewiesen, zieht Nagy Bilanz, „Auf dem Papier gibt es ja sogar eine neutrale Verwaltung – Aber in der Praxis?“

Abendvortrag: Wenn James Bond ein Land regiert

„Russlands James Bond“ habe die Lizenz zum Regieren, da ist sich die deutsche Politikwissenschaftlern Prof. Dr. Margareta Mommsen sicher. In ihrem Vortrag analysierte sie sein Profil: Die Rollenbezeichnungen reiche dabei vom präsentierten „Tausendsassa“, Meister der medialen Inszenierung, politischen Strategen über den „Macho-Autokraten“ bis hin zum „russischen 007“. Mit hohen Zustimmungsraten bei der Bevölkerung spielt Putin jedenfalls die unangefochtene Hauptrolle des „nationalen Führers“. Als Gegenleistung bediene er das Bedürfnis der „gekränkten Großmacht“ neue Wege zu erschließen. Dass dieser Weg seit März 2014 bis ans Schwarze Meer geführt hätte, bringe vorerst die propagierte Popularität nicht ins Wanken. Im Gegenteil: „Prosperität, Putinismus und Glamour nach innen wie nach außen“, lauten nach Mommsen die Elemente seines Erfolgs. Macht Putin dies auch zum „guten Politiker“, zumindest „gut“ für Russland? Mommsen zufolge führe der „Propagandastaat“ aus gleichgeschalteten Medien zu einer „apathischen Bevölkerung“, die die konstruierten Feindbilder  und Russlands Image von der „belagerten Festung“ aufsauge. Wie kein anderer zuvor schaffe er es, einen „Zusammenhang zwischen hegemonialer Maskulinität und geostrategischer Machtposition“ aufzubauen. Mommsen sieht in Putin dennoch weniger den starken Führer als den strategischen Spieler.

Zusammenfassend zeigt der Workshop eines klar auf: Die Suche nach dem „guten Politiker“ per se ist wohl eher eine „Mission Impossible“. Denn ihr Protagonist ist ebenso fiktiv wie James Bond. Dieser Mythos kennt nur Helden (Übrigens auch nur einen männlichen). Die Realität allerdings handelt von Menschen, Frauen und Männern, die gute wie schlechte Eigenschaften, Motive und Verhaltensweisen haben. Einzig ihre politischen Entscheidungen und ihr vernünftiges und friedfertiges Handeln in Krisensituationen können im Nachhinein als „gut“ bewertet werden. So wäre die logische Folge einer Suche nach den „guten Politikern“ die Frage nach den „guten Entscheidungen“ politischer Akteure.

Text: Nikolett Somlyai und Daniela Neubacher

Fotos: Balázs Szecsődi

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